Eine Kurzgeschichte.

Wie immer sehe ich mein Spiegelbild, wie ich in der Glasfront vor mir reflektiert werde und wie ich mir selbst entgegengehe, während ich weiter zur Tür der Firma schreite, für die ich arbeite. Meine Erscheinung vermengt sich mit dem Firmennamen, der in großen, silbernen Lettern dort steht, und langsam zeichnet sich die Welt hinter der Fassade ab, mit ihrem dunkelgrauen Schieferboden, der Sitzgruppe aus schwarzem Leder direkt am Eingang in seiner eckigen Form, einzelne, kubische Sitze mit einer albernen Verzierung aus Chromstahl. In der Raummitte werden mich allein stehende Tische erwarten, Tische mit einem ebenfalls schwarzen Bürostuhl dahinter und zwei, manchmal drei genauso schwarzen Ledersesseln davor; Tische aus Rauchglas, schwer und tragend, darauf ein LC–Schirm und daneben dunkler Bürobedarf, eine angedeutete Wand zur Seite, grau wie der Fußboden, Ablagen und Schubcontainer dabei, schwarz glänzend und mit Chromgriffen verziert; Tische, die so wichtig aussehen, und trotzdem beliebig verteilt und über diesen offenen, hohen und weiten Raum geklont, an dessen Ende eine weiße Marmortreppe nach oben führt, neben ihr einer dieser gläsernen Aufzüge; und alles glänzt und wirkt wie nie benutzt, und das jeden Tag, Woche um Woche, egal wie hier draußen das Wetter ist oder wie viele Menschen sich in dieser Welt hinter den Halbspiegeln schon getummelt haben.

Dann stehe ich mir selbst wie so oft gegenüber, aber bevor ich mit meiner Hand den Türgriff erreiche, kommt mir ein Kollege entgegen, öffnet mir die Tür und sagt „Guten Hunger gehabt? Deine Frau ist da und scheint dir was Wichtiges sagen zu wollen, zumindest hat sie ein paar Briefe dabei. Na, wieder ein Geschäft in den Sand gesetzt?“. Ich schaue an ihm vorbei und sehe sie an meinem Tisch stehen, auf meiner Seite, und wie sie ein paar Briefe in der Hand hält. Ich schenke ihm weiter keine Beachtung, bedanke mich aber und begebe mich direkt zu ihr, ohne den anderen anwesenden Kollegen große Aufmerksamkeit zu schenken. Mein Tisch ist auf der linken Seite direkt an der Raummitte, zu günstig, um nicht in jeder Thematik nicht im Mittelpunkt zu stehen, und so gehe ich ruhig und bedacht zu ihr, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Während ich mich ihr und meinem Tisch nähere, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie einige der hier Anwesenden dennoch versuchen, unauffällig in meine Richtung zu schauen. Angekommen gebe ich ihr einen Kuss zur Begrüßung, dabei bemerke ich, wie sie in ihrem weißen Kostüm in diesem Raum hervorsticht.

„Hey mein Schatz, was treibt dich denn her?“, frage ich, um meine aufsteigende Aufregung zu verbergen.

„Weißt du, ich bin gerade aus der Stadt wiedergekommen, habe die Post in unserem Flur gesehen, und es sah so wichtig aus, und deswegen bin ich jetzt kurz hier.“

Sie immer mit der Post! Dabei weiß sie doch genau, dass das Zeit hat, bis ich wieder zu Hause bin. Dieser Aufwand, warum?

„Das ist nett, aber das hätte doch warten können?“, sage ich, um sie – aber auch mich – zu beruhigen.

„Ich glaube nicht, weißt du, während du gerade weg warst und ich hier auf dich gewartet habe, habe ich sie schon aufgemacht und …“

„Du hast was?“, unterbreche ich sie in einem bestimmten Ton.

„Ja, aber das ist wirklich wichtig, schau doch!“, entgegnet sie mir verwundert und will mir die Briefe geben.

„Und? Du weißt doch genau, dass ich das nicht mag, wenn jemand meine Post liest!“ sage ich schon sichtlich lauter. Was soll das? Mein Herz pocht schneller, mein Hemdkragen scheint zu eng zu werden.

„Ich bin deine Frau! Und bevor du dich weiter aufregst …“

„Was, ich rege mich doch gar nicht auf, warum sagst du das? Was soll das?“ entgegne ich mit sichtlich lauter Stimme. Ein Kollege steht auf und dreht sich in unsere Richtung. Hervorragend, jetzt bekommen es auch noch alle mit. Musste das denn sein? Ich bin wütend. „Deswegen kommst du her, machst meine Post auf, und beschuldigst mich hier vor all meinen Kollegen?“

„Was soll das denn! Du spinnst doch. Ich bin doch nur hergekommen und wollte, ach, jetzt beruhig‘ dich doch wieder!“ schallt sie mir mit gehobener Stimme entgegen. „Jetzt lies das, verdammt noch mal!“, sagt sie im energischen Ton und will mir die Briefe in die Hand drücken.

„Ich denke ja gar nicht dran!“, brülle ich. Der Kollege, der gerade eben aufgestanden ist, kommt in meine Richtung. Ganz toll, dieses neugierige Arschloch, will der jetzt auch so einen Hippie–Spruch ablassen? Ich schnaube, aber als wenn das nicht genug ist, bekomme ich mit, wie alle um mich herum mich anstarren. „Du, du, ach!“ stottere ich, weil ich so sauer bin und so eine Wut habe. Wütend gehe ich, um mich draussen ein wenig abzureagieren–dabei lasse ich es mir nicht nehmen, dem minderbemittelten Türöffner von eben anzurempeln. „Hey …“, will er anfangen, aber ich drehe mich nur um und zische ihm „Ist was? Hat dich mal wieder jemand übersehen?“ entgegen.

An der frischen Luft draussen sammle ich mich wieder ein wenig, aber es regt mich nur auf. Warum tut sie das? Was sollte das? Ist das denn so schwer! Meine Sache. Warum muss sie immer nur so neugierig sein? Kann ich nicht einfach mal meine Ruhe haben, Raum für mich? Ich hasse diese Welt dafür, für ihre ewige Wiederholung, dieses aufgesetzte Interesse, jeden Tag, immer und immer wieder, diese Verlogenheit helfen zu wollen, und nett sein, und dann alles wissen wollen, um es hinter einem weiterzutratschen, sich lustig zu machen. Diese Wut! Jeden Tag, jeden verdammten Tag sehe ich diese Fratzen, und immer ist alles gut, alles toll, wir lieben uns so, stecken unsere Köpfe gegenseitig in den Arsch, aber wehe, du zeigst mal private Schwäche, und dann auch noch meine Frau, vor all diesen Idioten! Warum posaunt sie es nicht gleich aus, wie ich’s gerne im Bett habe! So eine verfickte … Ich atme tief durch, will mich beherrschen. Heute Abend werde ich mich einfach mit Wein betäuben und sie dafür kräftig von hinten durchziehen und in ihr Gesicht abspritzen.

Etwas beruhigt, aber mit flatternden Nasenlöchern gehe ich wieder rein, und schaue nur auf den Fußboden, dieses einheitliche Grau, und spüre dabei, wie mich alle ansehen. Ich muss nicht hochsehen, um das zu wissen, hinten rechts, dieser kleine Pisser, vor ihm die Büroschlampe, die gerne würde, aber niemand lässt, links, nicht weit von meinem Tisch, dieser elendige emphatische Wichser, der sich bei allen einschleimt und so versucht, Ideen zusammen zu klauen, all diese Arschlöcher hier, als wären sie bessere Menschen. Mit gesenktem Haupt? Was tue ich da, soll ich mich geschlagen oder reumütig zeigen? Ich baue mich auf und schaue vorwurfsvoll zu meinem Tisch – und traue meinen Augen nicht. Da sitzt doch diese Nulpe, die eben schon so neugierig war an meinem Platz, und zwar mit meinen Briefen in der Hand, und neben ihm meine Frau! Was soll denn der Scheiss? All die Leute um den Tisch? Alle schauen auf die Briefe, sie reden miteinander, sie tuscheln! Warum! Warum! Ich wusste es, sie sind alle da um meine Post zu lesen, sie lesen meine Post! Tuscheln wollen sie, diese kranken Idioten, sich über mich lustig machen! Ich weiß es verdammt noch mal genau, diese Augen, wie sie da stehen und grinsen, und runterschauen, wie sie sich absprechen, sich gegen mich stellen, diese! Ich hasse sie! Ich hasse sie, ich bin so wütend, ich will etwas zerstören! Schnell gehe ich rüber, an meinen Tisch, an meinen, ich habe es mir verdient in der Mitte des Raumes zu sitzen, ich allein, die sollen da weg, warum stehen die da, was machen die da! Warum lachen sie! Sie lachen über mich!

„Verdammte Scheisse was, macht ihr hier? Habt ihr nichts Besseres zu tun?“ brülle ich sie an. „Warum du, hm, ich dachte, du wärest auf meiner Seite!“, schreie ich meine Frau an. „Ihr kleinen schwulen Wichser, allesamt, ihr seid doch total pervers, habt ihr kein eigenes Leben?“

„Hör doch mal, wir wollten nur …“, sagt einer von denen.

„Ihr wolltet nur was? Mich ficken? Wollt ihr mich ficken? Von euch kleinen Schwanzlutschern lasse ich mich nicht ficken, besorgt euch euer eigenes Leben, wenn ihr keines habt, aber nicht mein Leben, nicht meine Post, nicht mein Leben! Nicht! Mein! Leben! Und du? Warum sitzt du auf meinem Stuhl? Hm?“ schreie ich wild herum. Er starrt mich mit großen Augen an.

„Ich, ich wollte doch … Ich, hier …“ stammelt er vor sich hin. So eine feige Sau, könnte wenigstens dazu stehen.

„Was willst du, hm? Was? Hä?“ unterbreche ich ihn. Dieser Idiot, der hat eine Lektion verdient, der hat eine verdient, eine für alle, das lasse ich nicht mit mir machen, nicht mit mir, warum tut er das auch, er hat selbst schuld, er hat schuld, warum macht er das! Und ich packe ihn am Hinterkopf, grabe mich fest in seine Haare ein, mit aller Kraft halte ich sie, er schreit, und es spornt mich an, es spornt mich an und gibt mir recht, ja, ich wusste es, ich wusste es, diese verlorenen Arschlöcher! „Hier, du willst die Post? Schau sie dir genauer an!“ lache ich, haha, ja, ich lache. Dann nehme ich all meine Kraft zusammen und donnere seinen Kopf mit voller Wucht auf den Tisch, mit aller Kraft, und ich höre seine Nase brechen, und hole noch einmal Schwung und knalle seinen Kopf auf den Tisch, und endlich fließt Blut, aber es spritzen nur ein paar Tropfen, noch mal! Nochmal knalle ich seinen Kopf auf den Tisch, und lasse ihn so liegen, voller Selbstzufriedenheit, und ich lache, und sage „Er hat es nicht anders verdient! Ihr alle habt es nicht anders verdient!“ und ich lache und fühle mich unbesiegbar, so unbesiegbar, als ich in ihre ungläubigen Gesichter schaue. Da stehen sie, ja, da stehen sie, und jetzt wissen sie, dass ich das nicht mehr mit mir machen lasse, mir nicht mehr in mein Leben schauen lasse, für sie da bin um mich über mich lustig zu machen.

„Was hast du da gemacht? Was hast du gemacht!“ schreit meine Frau weinend. „Was hast du da nur getan, warum? Was hat er dir denn getan, er wollte doch nur …“ weint sie vor sich hin und bricht zusammen. Einer der umstehenden Flachwichser kommt um den Tisch gerannt und schaut sich diesen Verlierer an, der in seiner eigenen Blutlache da auf meinem Tisch liegt.

„Ich denke, das reicht jetzt.“, sagt eine Stimme.

Wer ist das? Ich drehe mich zu ihm hin.

„Es reicht, Sie haben schon genug kaputt gemacht. Beruhigen Sie sich und versuchen Sie zu begreifen, was sie da gerade getan haben.“ höre ich ihn weiter sagen, in einer nüchternen, analysierenden, kalten Stimme. Das muss einer unserer Kunden sein, und ich halte inne. Ich halte inne und schaue mich um.

Ich schaue mich um … Sie sehen mich an, aber da ist gar nicht diese Häme, die ich gesehen hatte, sie lachen mich gar nicht aus. Da stehen sie, verängstigt, aber die Laune, die gewichen ist, war eine andere, eine freundliche. Aber wieso? Wieso …

„Sie haben sich ein wenig beruhigt, gut, und ich merke, sie begreifen, was sie gerade getan haben. Kommen Sie, ich glaube, Sie sollten mit mir mitkommen, und sich für die Nacht beobachten lassen.“

Verrückt? Ich? In eine Gummizelle? Ich bin doch nicht verrückt!

„Sie sind nicht verrückt, es ist nur zu ihrem eigenen Besten. Glauben Sie mir.“ sagt er, auf einmal ganz ruhig.

„Ich bin nicht verrückt, da haben Sie recht! Ich gehe doch nicht in die Klapse, lassen Sie mich kurz … Lassen Sie mich ganz kurz …“ rede ich mehr vor mich hin, als dass ich ihm antworte. Was habe ich da nur getan! Was! Meine Knie werden weich, und alles bricht über mich herein, meine Kraft schwindet und mir wird schwarz vor Augen, ich falle rückwärts gegen den Tisch. „Frische Luft!“, stammele ich und torkele nach draußen.

Wieder draußen ringe ich nach Luft. Was habe ich getan? Was, was, was nur? Meine Kraft schwindet. Er hat recht, er hat so recht. Aber ich bin doch nicht verrückt, oder? Ich bin nicht verrückt! „Ich bin nicht verrückt …“, murmele ich vor mich hin, während ich darauf warte, dass er mich mitnimmt.

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