Over London by Rail (Gustave Doré, 1872) [Glitch]Over London by Rail
Gustave Doré, 1872 [Glitch]

Der Wein schmeckt nach nichts. Oder vielmehr: Er schmeckt nach allem, nach was ein Wein schmecken soll, in genau den richtigen Proportionen, kalibriert auf eine Perfektion, die keine Ecken und Kanten hat. Hundert Punkte! Robert Parker, der Mann, der den modernen Weinmarkt erfand, hat entschieden, dass dieser Wein perfekt ist.

Das Problem dabei: Alle Hundert-Punkte-Weine schmecken gleich. Überkonzentriert, zu fruchtbetont, zu viel Eiche, zu viel Alkohol. „Parkerweine“ nennen Kritiker:innen sie, mit einer Mischung aus Verachtung und Resignation. Die finessenreichen, komplex strukturierten Weine – jene, bei denen man eine Stunde braucht, um alle Schichten zu entdecken – verschwinden aus dem Angebot. Nicht weil niemand sie machen kann, sondern weil sie keine hundert Punkte bekommen.

Parker hat nicht absichtlich den Geschmack homogenisiert; er hat nur eine Zahl auf eine subjektive Erfahrung gelegt. Der Markt hat den Rest erledigt. Winzer:innen in Bordeaux, in der Toskana, in Napa Valley, alle begannen, für die Punktzahl zu produzieren. Die Metrik wurde zum Ziel, das Ziel wurde zur Realität.

Musik wird seit Jahrzehnten lauter. Nicht im Sinne der Lautstärke beim Abspielen, sondern im Mastering: Der Dynamikbereich, der Unterschied zwischen den leisesten und lautesten Momenten, wird komprimiert, bis alles auf demselben Pegel dröhnt. Stille verschwindet. Crescendos verlieren ihre Wirkung, weil es kein Pianissimo mehr gibt, von dem aus sie aufsteigen könnten.

Lautere Songs klingen im Radio besser, wenn wir zwischen Sendern wechseln. Sie fallen auf Spotify in Playlists auf. Das menschliche Ohr verwechselt „lauter“ mit „besser“, zumindest für die ersten Sekunden. Die Metrik, die wahrgenommene Lautheit, wurde optimiert. Und die Musik wurde geopfert.

The Pudding analysierte Jahrzehnte populärer Musik. Die Ergebnisse: Moderne Songs sind homogener als je zuvor. Die Texte sind repetitiver und die Akkordfolgen ähneln sich. Das liegt weniger an mangelnder Kreativität der Musiker:innen als an der Infrastruktur, da Streaming-Algorithmen, Playlist-Platzierung und Engagement-Metriken den Mittelwert belohnen.

Ein Song, der polarisiert, wird von der Hälfte der Hörer:innen übersprungen. Ein Song, der niemandem missfällt, läuft durch. Die Algorithmen lernen. Die Produzent:innen lernen. Die Musik konvergiert.

Die meisten Cafés sehen inzwischen gleich aus: Sichtziegel, Edison-Glühbirnen, Holztische, Sukkulenten. Neue Apartmentgebäude: Glasfassade, graue Paneele, minimalistisches Design. AirBnBs: Neutrales Farbschema, generische Kunst, Pflanzen in der Ecke.

Der Architekturforscher Samuel Hughes recherchierte, dass das nicht an den Kosten liegt. Viele der architektonischen Verzierungen, die aussehen, als müssten sie von Hand gemeißelt werden, können günstig von Maschinen hergestellt werden, oft mit Technologie, die wir seit Jahrzehnten haben. Wir sind noch in der Lage, interessante Gebäude zu bauen. Wir entscheiden uns nur dagegen.

Der Grund: Interessante Gebäude bergen Risiken. Sie könnten Leute abstoßen. Sie könnten sich nicht gut verkaufen. Sie könnten auf Instagram nicht funktionieren. Der sichere Weg ist der Mittelweg: Baue, was überall funktioniert, was niemanden beleidigt, was in jeder Stadt, jedem Kontext, jedem Markt akzeptabel ist.

Die Folge: Du könntest in einem Café in Brooklyn aufwachen, in Shoreditch, in Kreuzberg, in Melbourne, und es würde Minuten dauern, bis du merkst, wo du bist. Die Textur der Orte, das, was sie unterscheidbar, erkennbar, einzigartig machte, wurde wegoptimiert.

Jeden Tag werden hunderttausend Songs auf Spotify hochgeladen, mehrere Millionen Videos auf YouTube. Selbst wenn 99 % davon Müll sind, sollte das noch mehr gutes Material sein, als irgendjemand in einem Leben konsumieren könnte. Und doch klagen Kritiker:innen, dass die Kultur stagniert. Die New York Times schreibt: „Wir sind fast ein Viertel des Weges durch das, was wahrscheinlich als das am wenigsten innovative, am wenigsten transformative, am wenigsten wegweisende Jahrhundert für Kultur seit der Erfindung des Buchdrucks in die Geschichte eingehen wird.“

Das Paradoxon löst sich auf, wenn wir die Infrastruktur betrachten. Die schiere Menge an Content hat nicht zu mehr Vielfalt geführt, sondern zu mehr Konvergenz. Algorithmen optimieren auf Engagement, und Engagement bedeutet: möglichst viele Leute schauen möglichst lange. Das funktioniert am besten mit dem, was den meisten gefällt; nicht das, was einigen sehr gut gefällt und anderen gar nicht. Das Mittlere. Das Akzeptable. Das Unvermeidliche.

AI-Modelle, trainiert auf menschlichem Output, produzieren jetzt menschlichen Durchschnitt. Nicht den besten menschlichen Output, sondern den durchschnittlichen. Und dieser Durchschnitt flutet jetzt alles: Artikel, Bilder, Code, Kundenservice, Bewerbungen. „Slop“ wird das im Englischen genannt, der Brei, der aus der Maschine kommt, technisch korrekt und inhaltlich plausibel, aber ohne Seele, ohne Eigenheit und ohne Tiefe. Ohne das, was etwas interessant macht.

Das Tragische: Die Maschine wurde auf uns trainiert und gibt uns zurück, was wir produziert haben. Nur dass sie den Mittelwert nimmt, nicht die Extreme. Das Seltsame, das Kantige, das Schwierige, sie alle werden weggemittelt.

Adam Mastroianni dokumentiert den Decline of Deviance: Teenager trinken weniger, rauchen weniger, haben weniger Sex, prügeln sich weniger. Erwachsene begehen weniger Verbrechen. Weniger Menschen ziehen um, weniger Menschen gründen Kulte. Sogar Serienmörder:innen werden seltener.

Seine Erklärung: Das Leben ist mehr wert als je zuvor – nicht moralisch, sondern ökonomisch. Wenn Regierungsbehörden Kosten-Nutzen-Analysen machen, berechnen sie den „Wert eines statistischen Lebens“ – wie viel Menschen bereit sind zu zahlen, um ihr Sterberisiko zu senken. Dieser Wert ist schneller gestiegen als das BIP. Wir halten unser Leben für wertvoller, weil es sicherer, länger, angenehmer ist. Wir haben mehr zu verlieren.

Mastroiannis Großväter starben mit 60. Sie wurden zum Koreakrieg eingezogen, wie ihre Väter zum Zweiten Weltkrieg, wie deren Väter zum Ersten. Sie wuchsen ohne Elektrizität, ohne fließend Wasser auf, überlebten die Depression. Wenn du davon ausgehst, mit 65 zu sterben, und diese 65 Jahre hart sind, lebst du anders, als wenn du mit 95 rechnest, in Komfort.

Mastroianni schreibt: „Niemand hat mich je gebeten, jemanden zu erschießen. Ich habe einen Großbildfernseher. Ich könnte Sushi in 30 Minuten nach Hause liefern lassen. Warum sollte ich das riskieren?“ Die Dinge, die seine Großeltern beiläufig taten, wie rauchen, auf der Ladefläche eines Pickups mitfahren, medizinische Behandlung aufschieben, fühlen sich für ihn undenkbar an.

Das ist der Kontext, in dem Parker-Weine entstehen, in dem Musik komprimiert wird, in dem Architektur konvergiert. In dem wissenschaftliche Paper alle gleich klingen, weil Abweichung vom Format Risiko bedeutet, und Risiko bedeutet, dass dein Paper abgelehnt wird, und Ablehnung bedeutet, dass du keine Tenure bekommst, und keine Tenure bedeutet, dass dein Leben ruiniert ist.

Wir haben ein System gebaut, das Sicherheit belohnt. Sicherheit bedeutet Konformität, Konformität bedeutet Mittelwert.

Arturo di Modica riss aus Sizilien aus, um in Florenz Kunst zu studieren. Er wanderte in die USA aus, arbeitete als Mechaniker und Krankenpfleger, um seine Kunst zu finanzieren. Er kaufte ein baufälliges Gebäude in Lower Manhattan, riss es ab, baute illegal sein eigenes Studio, inklusive zwei Untergeschossen, mit bloßen Händen. Er weigerte sich, mit Kunsthändler:innen zu arbeiten, bis er in seinen SiebZigern war.

Sein berühmtestes Werk, der Charging Bull an der Wall Street, wurde ohne Genehmigung dort abgestellt, beschlagnahmt, dann nach öffentlichem Aufschrei zurückgebracht. Di Modica meinte ihn nicht als Avatar des Kapitalismus. Der Aktienmarkt war 1987 abgestürzt, und er wollte Resilienz symbolisieren: „Mein Punkt war, den Leuten zu zeigen, dass du etwas tun kannst, wenn die Dinge sehr schlecht sind. Du kannst es alleine tun. Du musst stark sein.“

Wer würde di Modicas Leben heute leben? Jeder Schritt war unklug: Lauf nicht von zu Hause weg, studiere keine Kunst, definitiv keine Bildhauerei, grab keinen eigenen Keller, stell deine Kunst nicht auf die Straße. Selbst wenn jemand verrückt genug wäre, es zu versuchen – wer könnte? Die Kunstschule würde dich nach Hause schicken. Die Immobilie wäre unerschwinglich. Die Stadt würde dich stilllegen.

Inzwischen: Fearless Girl, die Statue des Mädchens, das trotzig vor dem Bullen steht, wurde von einer Investmentfirma in Auftrag gegeben, um einen neuen Indexfonds zu bewerben.

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