Ein alter Freund über die gesellschaftlich totalisierte Bereitschaft zum ständigen Kompromiss:

Wir leben in einer Gesellschaft, in der keine Position bezogen, Konflikte gemieden, und immer der Kompromiss gesucht wird. Symptomatisch stets jein und es kommt darauf an gesagt wird. Nicht Bier, nicht Saft, sondern Weizen-Mix. Nicht die Lässigkeit eines locker umschwungenen Schals oder der Ernst einer Krawatte, sondern die Schawatte. (…) Ehrlichkeit ist selten geworden, und Meinung haben inzwischen fast schon mutig.

Aus derselben Ecke, mein Grund für meine ganz persönliche, wenngleich einseitige „Fede“ mit den meisten Juristen1: „Es kommt darauf an.“ Dazu greift oben genanntes Zitat soviel auf, dass ich in Zustimmung keinen guten Ansatz finde, ihn ergänzend zu kommentieren.

Es ist halt einfach und bequem, keine eigene (differenzierte, kritische) Meinung zu haben oder sie zu äußern, weil es nicht nur keine Konsequenzen hat, sondern auch gesellschaftlich favorisiert und unterstützt wird nicht abzuweichen.2 Nur wenn jeder immer zum Kompromiss bereit ist, passiert leider nicht gar nichts und alle sind glücklich – es gibt nicht nur keine Grenzen, diese nicht-Meinung wird spätestens in mittelbarer Auswirkung davon zum Problem aller weil die, die dann tatsächlich lauter sind, es oft im besten Falle nur unreflektiert sind und die Party für alle versauen.3

Greife ich wenigstens den Punkt mit der Ehrlichkeit genauer auf als Idee zu einer Handlungsanleitung, um zu zeigen, wie das anders gestaltet werden könnte, fällt mir dazu ein Artikel von Jeff Atwood ein, „Trust me, I’m lying“, aus dem dieses Zitat stammt:

We reflexively instruct our children to always tell the truth. It’s even encoded into Boy Scout Law. It’s what adults do, isn’t it? But do we? Isn’t telling the truth too much and too often a bad life strategy – perhaps even dangerous? Is telling children to always tell the truth even itself the whole truth?

Ein überaus spannender Artikel4, besonders in dem Fazit von Atwood, „advocating telling the truth 100 % of the time, no matter what, is harmful extremism“ und „truth, real truth, is honesty with a purpose“.

Die Wahrheit zu erzählen bedeutet allerdings nicht, dass man unhöflich oder gar extremistisch daherkommen muss. Eine Möglichkeit wäre, die Wahrheit nicht unaufgefordert mitzuteilen. Außerdem scheint Atwood das Geben einer wahrheitsgemäßen Antwort mit dem Verraten einer privaten Agenda zu verwechseln (was verwirrenderweise das ist, was das „Radical Honesty Movement“ möchte).

Natürlich gelten Ausnahme für große Lügen („Da sind keine Juden im Keller“). Aber sie sollten das sein, eine Ausnahme.

Und so arbeite ich lieber an meinem diplomatischen Geschick, statt zu lügen oder mich um eine Antwort zu drücken.

Lesetipp: „Lying“ von Sam Harris.

Fußnoten

  1. Natürlich nicht mit meinen guten Freunden. Und ja, mir ist der Sinn davon durchaus bewusst. ↩︎
  2. Das mag durchaus meine subjektive Wahrnehmung sein, verstärkt durch Lektüre wie „The War of Art“ von Steven Pressfield aber ich würde schon gerne wissen, warum ich das so sehe↩︎
  3. Dass ich das mal schreibe. Grenzen sind allerdings für mich, so paradox das klingen mag, ein Freiheitsbegriff: Tu, was immer du willst, aber lass die Konsequenzen deiner Handlungen nicht zum Problem anderer werden. ↩︎
  4. Von dem ich ursprünglich dachte, er sei über das Buch mit demselben Namen↩︎