Eine Kurzgeschichtenreihe.

Übersicht

Am Boden

Mit dem Gesicht in einer kleinen Lache auf dem kalten Betonboden lag ich da und sah die Welt um 90 Grad gedreht, wie sie langsam verschwamm. Die Kälte, die sich ausbreitete, nahm ich zuerst gar nicht wahr. Mit leerem, verlassenen Blick klammerte ich mich an meine letzen Gedanken, an das, wie ich mich fühlte. Ich kann nicht genau sagen, was mir zuletzt durch den Kopf ging: dass es klar war, dass es passieren würde, meine selbstgerechte Liebe, der ich das hier zu verdanken hatte, oder dass ich noch spürte, wie mein Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden knallte und mir dabei ein wenig von der Haut auf meinen Wangenknochen abgerissen wurde.

So lag ich da, allein, und die verschwommene Welt wurde immer dunkler und befremdlicher, ich hörte schallende Geräusche, die sich mehr und mehr verzerrten und distanzierten. Der graue, gegossene Boden war so kalt wie unpersönlich, und in völliger Anteilsnahmelosigkeit brachte er mir nur Härte und eisige Kälte entgegen. Für einen flüchtigen Augenblick erkannte ich auf ihm ein Muster in das ich eintauchte, und schemenhaft sah ich ein lächelndes Gesicht und hörte verliebtes Lachen, das aber sofort wie ein Echo verschwand, als ich mich daran erinnerte wieso ich ich hier lag. Dann spürte ich, wie die Wärme zuerst aus meinen Fingern und aus meinen Zehen wich, kurze Zeit später dann waren meine Hände kalt; meine Füße konnte ich ohnehin schon nicht mehr fühlen. Meine rechte Gesichtshälfte war fast gefroren und klebte am Boden wie eine Zunge an einem eisigen Stahlträger. Einer Entzündung gleich zog sich die Kälte von meinem Bauch zu den Nieren hoch.

Es störte mich nicht, wie mein Körper wieder Teil dieser Erde wurde, zu viel und eigentlich nichts beschäftigte mich. In meinen komprimierten Gedanken, Erinnerungen und unzähligen Assoziationen tat sich kurz eine hervor: Wer sagt, er habe sich in seinem Leben einsam gefühlt, weiß nicht, was es wirklich bedeutet, allein zu sein. Wie ich da lag, spürte ich die Endgültigkeit und fing an, sie zu begreifen: eine Mischung aus Verzweiflung, Liebe, Panik, Selbstgerechtigkeit gepaart mit Sinnlosigkeit und dem elenden Wissen, dass es das letzte sein würde, was mich mit dieser Welt verbindet. Wie ironisch, wie sarkastisch, wie zynisch! Hätte ich doch nur einfach geliebt, schon immer, trotzdem machte ich mir keinen Vorwurf. Immerhin hatte ich mich für das, was passiert ist, selbst entschieden. Ich bereute es nicht, aber in diesem Augenblick wünschte ich mir nichts mehr als Liebe: jemanden, der mich hält, die Wärme eines liebenden Menschen – vor allem der Frau, für die ich mich aufgab, sie sollte hier sein und mich anlügen, dass sie mich auch liebte; so war es eben vielleicht auch unbewusst die Liebe, die mir auf ihre Art und Weise zeigte, dass sie einfach tragisch ist. Was wäre er aber wert gewesen, dieser Egoismus? In diesem Schachspiel, dessen umgestoßene Figur ich nun war, war ich kein König, sondern das Bauernopfer, aber das passiert nun mal, wenn man sich auf die gegnerische Dame einlässt. Ich sah es ja selbst so, ein Leben ist nichts und alles wert.

Von den Gedanken weg holte mich die Wirklichkeit ein letztes Mal ein: Kälte. Was für ein Ende, erwartet hatte ich es ja, und ich dachte, ich wäre vorbereitet, aber so, hier? Meine Arme, meine Beine und mein Torso, so schnell ausgekühlt. Ich fror, aber mein schlaffer, ausgestreckter Körper hatte schon zu wenig Leben um zu zittern. Selbst das Blut, das sich inzwischen den Weg vorbei an meinem rechten Mundwinkel suchte, war frei von der Wärme des Lebens, und breitete sich aus, als würde es sich an meiner statt an das Irdische klammern. Meine Pupillen weiteten sich, während mein Herz das letzte mal laut kämpfte. Einmal kurz krampften meine Hände; mein Magen zog sich zusammen. Dann: Entspannung. Mein Herz pochte langsamer und langsamer, langsamer und kaum noch wahrnehmbar. Es hörte auf zu schlagen.

Ich tauchte vollends in die kalte Dunkelheit ein, und in meditativer Ruhe verließ ich in einem kurzen Augenblick des vollendeten Glücksgefühls diese Welt. Vielleicht war ich allein, aber ich durfte nun für immer träumen.

Im Restaurant

Für ein Auto in dieser Klasse waren die Ledersitze recht unbequem; wie diese schwarze haarlose Haut träge nachgab und dabei knarrte, wenn wir um die engen Kurven fuhren und ich unwillkürlich dabei mein Gewicht verlagerte; wie es immer lauter wurde, je höher wir fuhren; wie sich dunkle Muster abzeichneten, die ich zu sehen begann, wenn ich in meiner äußeren Gleichgültigkeit meinen glasigen Blick schweifen ließ und dabei auf der Rückbank, auf der ich saß, innehielt. Dieses dunkle, schwere Interieur, verziert mit Wurzelholz und silbergrauen Deko–Elementen; es strahlte eine tragende Schwere aus, schwer und gesetzt, aber durchdringend und mit einer Ernsthaftigkeit unterzeichnet. Dieses Ernste; ich wurde gefahren, und wie ich darüber keine Kontrolle hatte, so fühlte ich mich zu meiner Entscheidung gedrängt, dass ich sie nicht mehr ändern konnte, dass ich mich auf dieses Spiel eingelassen hatte, dessen Regeln ich nicht kannte, und es dennoch bis zum Ende mitspielen musste. Ich fühlte mich gleichermaßen unfreiwillig angetrieben wie auch befreit, frei von den Zwängen, denen ich noch einigen Stunden zuvor unterlag, befreit durch die Liebe, die ich gefunden hatte, aber gebunden an das, was ich für sie tun musste.

Draußen sah es unbeschwert und friedlich aus: Es war ein sommerlicher Tag, am Himmel zeigten sich nur wenige Wolken, weiß und klein; Wolken, die wie verlorene Schafe auf einer weiten Wiese standen. Hier und da brach ein Sonnenstrahl zwischen den Bäumen durch, der die vielen Zweige mit ihren grünen Blätter in einem Heiligenschein verschwinden ließ. Ruhig betrachtete ich dieses stroboskopische Naturschauspiel, und hin und wieder konnte ich an den Bäumen vorbeischauen, weit hinunter ins Tal, in dem ein Fluss sich über eine Ewigkeit seinen Weg bahnte um Berge wie diesen zu bezwingen. Wo sich die Bäume verdichteten sah man ihre stämmigen Körper, gesund und gerade gewachsen, unbeeindruckt von uns, wie wir an ihnen vorbeifuhren und wohl nicht mal ein Blitzen in ihrer Wahrnehmung waren. Ich fühlte mich wie ein Gast in einer Welt, die den flüchtigen Augenblick des Menschseins nicht kannte, und doch fühlte ich mich ihr verbunden, weil sie all das auszudrücken vermochte, wonach ich mich sehnte: ewige Ruhe, Wärme, Vollkommenheit, nicht übertrieben, aber ständig mit allen Sinnen zu fühlen.

Am Ende der Straße, die von oben bestimmt nicht anders aussah als der Fluss, den wir auch eine Zeit lang begleitet hatten, erwartete uns ein großes Tor, das uns mit seinen geöffneten Pforten einlud hindurchzufahren. Mein Fahrer bremste ab, und ein Geräusch wie knirschende Zähne, das von den weißen Kieselsteinen unter uns kam, ließ meinen schweifenden Blick verharren und mich mit einer endgültigen Gewissheit das herrschaftliche Gebäude vor mir betrachten. Dieses Gebäude, weit entlegen von der nächsten Stadt, kurz unter dem Gipfel dieses Berges, gebaut im späten 18ten Jahrhundert, mit seiner majestätischen Aussicht auf das Tal, konzipiert als Gästehaus für Staatsgäste und später zu einem exklusiven Hotel mit einem besseren Restaurant umfunktioniert; dieses Gebäude, das auch nach meinem Aufenthalt genauso ein unwirklicher, künstlicher Teil dieser Natur sein würde und dennoch früher oder später ihr wieder Platz machen müsste – als letzter Zeuge der Menschen, die es mal bewohnten; dieses Gebäude, dem mein Besuch gleichgültig war, aber in dem ich alles tun würde, um lieben zu können und um geliebt zu werden.

Rechts vor dem Eingang zum Restaurant parkten wir zwischen anderen Limousinen, und ich nahm das erste Mal wahr, dass mein Fahrer mit mir sprach; mit einer ernsten Stimme fragte er mich, ob ich alles bei mir hätte. Ich schaute mit gleichgültigem Blick aus dem Fenster und beobachtete den jungen Mann an der Tür, der wohl darauf wartete, dass er mir die Tür zum Restaurant öffnen konnte. Ob ich alles dabei hätte? Jetzt wäre es wohl sowieso zu spät, etwas zu korrigieren. Er fragte nicht mal, ob ich bereit sei, vielleicht wusste er aber auch einfach nicht, um was es ging, oder es war ihm egal. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er seine Sonnenbrille abnahm, in den Rückspiegel schaute und erneut fragte. Mit kalten Augen, frei von Scham und anderen Gefühlen, sah er mich dabei an, und ich spürte, dass ich für ihn einfach nur beliebig war. Ohne ihn weiter besonders zu beachten, nickte ich. Dann tippte ich auf den Aktenkoffer aus braunem Wildleder, der unter meinen Beinen stand, um ihm meine Bereitschaft anzukündigen, dass Fahrzeug zu verlassen. Der namenlose, bullige Mann setzte sich seine Sonnenbrille wieder auf, stieg schnell, aber bedacht aus und öffnete meine Tür. Dann stieg ich aus und versuchte dabei gleichgültig zu wirken; als ich stand, schaute ich mit einem Tunnelblick nach vorne und holte langsam und tief Luft. Mein Herz klopfte nicht schnell aber kräftig, und beim Gedanken an die Frau, wegen der, nein, für die ich das hier tat, wurde mir für einen Augenblick heiß. Danach tauchte ich sofort ins Kalte ab, emotionslos, nur getrieben von dem Ziel, bei ihr zu sein, ihr sagen zu können, dass sie sich keine Sorgen mehr machen braucht, dass uns nichts mehr im Wege stünde.

An meinem Tisch wurde ich bereits erwartet – von einem Bekannten, den ich immer wieder mal traf. Wir realisierten dann und wann mal kleine und durchaus lukrative Projekte, aber sonst verband mich nichts Freundschaftliches mit ihm; oft war er nützlich für mich, so wie ich ihm nützlich war. Heute sollte er es wieder für mich sein. Er wollte ohnehin mal wieder mit mir essen gehen, sagte er mir am Telefon, und das Restaurant hier sagte ihm zu. Zur Begrüßung stand er auf, und in deutlich überschwänglicher Freude begrüßte er mich mit einer kumpelhaften Umarmung. Er fragte mich, ob er mir etwas abnehmen könnte, und mit seinem leptosomen Körper sah er dabei fast wie der Kellner an unserem Tisch aus, der eigentlich dafür zuständig gewesen wäre. Wir setzten uns, und ich betrachtete ihn kurz. Wie alt er wohl war? Er hatte ein jugendliches, aber markantes Gesicht, ein wenig knochig. Seine rotbraunen Haare waren mittellang und hingen nach vorne ins Gesicht, was es noch schwerer machte seinem Blick zu folgen. Ich konnte mir nie sicher sein, wohin er gerade sah; manchmal glaubte ich, seine dunklen Augen würden in den Augenhöhlen verschwinden. Sein euphorisches, energetisches Auftreten ließ ihn oft unterschätzt werden, selbst mich erstaunte sein Kalkül immer wieder, wenn sein Körper versteifte und er mit ernster, energischer Stimme jemanden zurechtwies. Während er dem Kellner etwas sagte, schaute ich mir die auf dem Tisch stehende Flasche genauer an, ein ’91er Lafite–Rothschild, worauf hin ein anderer Kellner mir ein Glas hinstellte und freundlich aber bestimmt nach der Flasche fragte und jenes zu einem Drittel füllte.

Wir bestellten uns schon mal ein paar Kleinigkeiten vorweg, und ich schaute mich abschätzend um. Der große Saal hatte eine hohe Decke unter der Kronleuchter hingen, mit Stuck verzierte Wände mit einen Stich ins Gelbe, eine gesamte Seite bestand nur aus großen Panorama–Fenstern mit Blick auf den benachbarten, eben so grünen Berg, auf dem eine kleine Burgruine stand. Große, dunkelblaue Samtvorhänge drittelten die Räumlichkeiten. Im ersten Drittel, wo wir saßen, gab es eine Bar, ihr gegenüber im Raum stand ein Flügel, an dem ein Pianist versuchte Keith Jarret zu imitieren. Uns umgaben ein paar kleine Tische, an denen überwiegend nur Geschäftsleute saßen: allein, nebenbei lachsfarbene Zeitungen lesend, paarweise oder auch zu dritt, über abwesende Kollegen frotzelnd, zu viert, um über beliebige geschäftliche Themen zu reden. Im mittleren Drittel standen größere, überwiegend runde Tische. An einem saß eine Gruppe von alten Herren, begleitet von ihren Frauen, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters enge Kostümchen trugen und dabei mit Edelsteinen behangen durch ihr tiefes Dekolleté ihren Busen zur Schau stellten. An einem anderen, länglichen Tisch saß eine gemischte Gruppe von 12 oder 14 Personen, überwiegend Männer mittleren Alters, ein paar Frauen dazwischen, elegant gekleidet, aber vom Gesamtbild her nicht passend – Begleitdamen. Ich hielt beim Überfliegen der Gesichter kurz inne und vergewisserte mich, dass die Person, wegen der ich wirklich hier war, dort auch am Tisch saß. Dann wandte ich mich wieder meinem Gegenüber zu, und behielt jenen Tisch im Blickwinkel.

Während wir die inzwischen servierten Appetithäppchen aßen und dabei den Wein hedonistisch verschwendeten, unterhielten wir uns über diverse Belanglosigkeiten: Was wir so in letzter Zeit gemacht hatten, woran wir gerade arbeiteten, und was in Zukunft anstehen würde. Es langweilte mich, und es fiel mir schwer, nicht an meine wahre Liebe zu denken, ohne, dass ich verlangend durch mein Gegenüber hindurchsehen würde, die Welt um mich herum zu vergessen und meine wahren Absichten zu offenbaren – ich war so versucht, es laut herauszuschreien, mein Körper war geladen wie nach einem Sprint. Stattdessen versuchte ich mich in Gleichgültigkeit, in der von mir erwarteten Gefühllosigkeit, und erfreute mich geistig an all den schönen kleinen, vollkommen unnötigen Dingen im Leben, die ich dieser Einstellung zu verdanken hatte. In dem Augenblick war ich in mich selbst verliebt, und trotzdem schob sich ihr Gesicht in meine Gedanken. Sie bestimmte irgendwie mein Tun, aber ich fühlte mich gut dabei, weil ich dabei frei war, unerreichbar und unverwundbar; mein Handeln hatte durch sie einen tieferen Sinn. Dann gab ich mir pflichtbewusst einen Ruck und konzentrierte mich, lehnte mich zurück und tauschte mich weiter über geschäftliche Errungenschaften aus – wie wir da saßen und uns als Intriganten der Gesellschaft verstanden und dabei auch noch lächelnd Werte anhäuften.

Es verging einige Zeit, der Hauptgang kam und ein Kellner öffnete uns eine weitere Flasche von dem Wein; ich beugte mich kurz nach vorne, um nach dem Weinglas zu greifen, als ich sah, wie sich mein wahres Anliegen auf die stille Örtlichkeit begab. Wie programmiert entschuldigte ich mich sofort und schob die unnötige Ausrede nach, dass ich mich kurz frisch machen wollte, und stand auf. Während ich mich vom Tisch begab, konnte ich meinen Bekannten lächeln sehen. Zügig begab ich mich in Richtung der Waschräume. Die Tür schloss sich beinahe, und ohne sie weit zu öffnen, zwängte ich mich flink durch den Spalt hindurch. Ich schaute mich in dem recht kleinen Raum um, vor mir im dunklen Marmor zwei eingelassene weiße Waschbecken, Wasserhähne in gebürstetem Aluminium mit zwei kleinen Spiegeln davor, gedämpftes Halogen–Licht schien von der Decke. Rechts von mir lagen Handtücher und einige Parfum–Proben. Zu meiner linken war eine weitere Tür, die ich vorsichtig öffnete, ein rosiger Duft hauchte mir entgegen.

Ich schaute in den Raum und sah voneinander getrennte Kabinen. Es war niemand zu sehen, und auch beim obligatorischen Blick unter die Türen konnte ich niemanden entdecken. Vorsichtig betrat ich den Raum, in dessen Mitte ich stand, als ich von hinten angesprochen wurde. Während ich mich umdrehte, griff ich einen Arm der Person, die aus dem toten Winkel der Tür hervortrat, drehte mich und meinen Arm weiter und warf sie durch den Raum. Dann öffnete ich eine der Türen, packte den Körper und stieß ihn hinein. Ohne lange zu warten, nahm ich meine Pistole aus dem Halfter, den Schalldämpfer aus meinem Jackett und schraubte ihn auf. Ich schaute meinem Opfer kurz und bestimmt in die Augen, aber ich sah dort nicht, was ich erwartet hätte; stattdessen hörte ich nur eine Entschuldigung. Ich drückte ab.

Im selben Augenblick, wo ich den Abzug betätigte, verlor der Mensch vor mir sein Leben. Diese maschinelle Tötung, unpersönlich, artifiziell, als würde ich es nicht selbst tun, es war so befremdlich und gleichzeitig so leicht. Dann hielt ich kurz inne, und schaute an, wer vor mir war. Diese Symmetrie des Gesichtes, dieses volle, lange schwarze Haar auf dem Kopf, der auf einem mindestens eben so schönen Körper war. Diese Augen, die so sehnsüchtig schauten, mich leer, glasig und trotzdem vorwurfsvoll anschauten. Diese toten Augen, die mich leben ließen. Diese tiefen Augen, die das erste Mal wahre Liebe in mir weckten. Da stand ich, und sagte ihr, dass sie sich nun keine Sorgen mehr zu machen brauchte, dass uns nichts mehr im Weg stünde. Ich wollte schreien, alles herauslassen, den ganzen Schmerz und all die Liebe, aber stattdessen feuerte ich mein Magazin leer, verteilte Schüsse über ihre Brust, und während ihr Körper sich dabei ein letztes mal aufbäumte ein Schuss in ihren Kopf. Dann sackte sie zusammen und ich wandte mich ab.

Ich verließ den Raum, wusch meine Hände, ließ kaltes Wasser über den heißen Schalldämpfer laufen, um ihn dann abzuschrauben und in meinem Jackett wieder verschwinden zu lassen, die Pistole schob ich zurück in ihr Halfter. Ich schaute in dem Spiegel nach meinem Krawattenknoten, aber den doppelten Windsor brachte so leicht nichts aus der Ruhe. Dann verließ ich den Waschraum. An den Tisch zurückgekehrt setzte ich mich sofort hin, entschuldigte mich erneut für die Unterbrechung und holte einmal tief Luft; ich wünschte einen guten Hunger und genoss mein Essen. In Selbstgefälligkeit saß ich da, befreit von einer großen Last. Ich fühlte mich erleichtert und irgendwie glücklich, als würde alles einen Sinn ergeben, das Rätsel des Seins löste sich vor mir auf. Ich rationalisierte meinen Gedanken, lächelte ganz kurz und flüsterte:

Ich liebe sie.

Andere Sicht

Ich schreibe es auf (damit ich mich daran erfreuen kann) und nenne ein Beispiel, es glaubt sowieso keiner. Wer könnte schon! Diese Unwissenheit – ach. Nicht mal eine Ahnung. „Verschwörungstheorien!“ und „Mumpitz!“ nennen sie es. Das schöne dabei ist: Ich muss es ihnen nicht mal beweisen, weil ich sie selbst dafür benutze. Wozu sollten wir auch die große Verschwörung planen; viele kleine sind der Schlüssel zum Ziel. Und Verschwörung, was ist denn das auch schon, es ist ja doch nur ein Spiel (Schach), geplant, warum sollten wir da sagen, was unsere nächsten Züge sind? Unsere Welt ist doch auch nicht anders, nicht anders als deren. Eine einzige graue Masse; es ist egal, auf welcher Seite man steht (weil es keine gibt), du stehst für eine Ideologie, aber die Feinde und Freunde wechseln ständig. Ist es denn bei dir anders, in deinem Job bei der Bank, in der Versicherung, als Anwalt? Und interessiert es dich, bei deinem Job als Montage–Arbeiter, Verkäufer, Rezeptionist? Wozu. Mag sein: Ich bin Sokrates und nur ein Rädchen, aber ich drehe mich. Diese angeblich so glücklichen Schweine – grau in grau, Tag um Tag. Mein Ziel! Mein Ziel. Ein einziger Mensch und zugleich alle: „Ein Leben ist nichts und alles wert!“ sage ich da. Pathetisch? Mit Sicherheit nicht (ich weiß es einfach besser).

Lasse ich sie es tun. Handwerkszeug: die menschliche Eitelkeit (Schlüssel). Kraul das Ego, streiche Honig um den Mund, lass sie reden; gib ihnen das Gefühl, sie stünden ganz oben auf deiner sozialen Skala. Ein paar mal machst du das – et voilà: Du kannst ihnen Wörter in den Mund legen, die sie für die eigenen halten werden. Dann: eine Idee, warum sie es tun und glauben, sie täten es aus gutem, noblem Grund. Lass es Liebe für sie sein (dieser emotionale Ballast! Lolita Pille: „Mehr hat man nicht gefunden, um die postkoitale Depression zu verfremden, um die Hurerei zu rechtfertigen, um den Orgasmus zu sichern.“), und sie werden aufhören zu denken. Hinreichend auch: die unmittelbare Bedrohung der Liebsten; eben: nur nicht denken lassen. Lehrt einem die BWL nicht, der Mensch sei „Humankapital“? Ich lebe davon und dafür: Kontakte pflegen, Krümel hinwerfen und für den Kuchen eben nichts Geringeres als Altruismus zu fordern. Verachtenswert – mitnichten. Sie haben dann wenigstens gelebt und etwas bewegt; dann muss es doch egal sein, in wessen Interesse (denn besser so als ewig den gleichgültigen Trott der anderen gelebt zu haben, die sich trotz ihrer Gleichheit eines „Wir“ nicht einmal bewusst sind). Das behindert die freie Entfaltung – verletzt die Menschenrechte? Max Weber: „extrem rationalisierende Fanatismen“; was unterscheidet uns also? Zweckgebundenheit für – und nicht gegen – die Gesellschaft und die Menschen, die in ihr leben.

Wie ich es tue. Handlungsablauf, unscharf: die kleine Partie Schach (als untergeordnete der großen), nur östlich. Das Ziel vor Augen – und den Weg dorthin gilt es zu beschreiben. Die neue Spielfigur auf ebendiesen bringen, die anderen nicht vergessen und dabei nicht außer Acht lassen, was das Gegenüber sich vielleicht hat einfallen lassen. Kleine Variation in dieser Version: hin und wieder sind die gegnerischen Figuren die eigenen und – du solltest es geschickt einzusetzen wissen – auch vice versa. Aktion, aber die Reaktion provozieren; sich der einmaligen Wichtigkeit einer Figur bewusst und bereit sein, diese vom Brett zu nehmen (sie wird umgestoßen). Will – und muss – meinen: wenn ich den entscheidenden Zug mit einer dann gemacht habe, ist mir die Spielfigur egal geworden, sie besitzt keine spielentscheidende Funktion mehr (wie ein Bauer von E4 auf E5). Zynisch? In einem anderen Spiel bin ich doch selbst eine Spielfigur (Buddha: „Die Befreiung von den Leidenschaften, vom Willen zum Leben, hebt das Leiden auf.“ – aber immerhin: Mahayana).

Wie es nun passiert. Handlungsablauf, ein Beispiel (es war, ist und wird beliebig sein). Vorweg: ich bin kein Geschichtenerzähler! Aber ist das eine, seulement sans morale? Nein, avec moralité! Nur keine mit dem erhobenen Finger, sondern eine, die selbst Teil einer ist.

Die meisten der Menschen, die ich in meinem Adressbuch halte, habe ich auch wie diese Spielfigur auf einem anderen Spielfeld getroffen: auf einer dieser vielen Parties, auf denen Menschen mit ihrem Ego kokettieren können; dieses Ego, das wie so oft nur eine Fassade ist (gefüllt mit ihren beruflichen Errungenschaften), fixiert auf den Vergleich ihrer hinübergereichten Schwanzlängen (ein grandioses Bild, wenn man sich das mal genau so vorstellt – vor allem dann, wenn Frauen diesen wirtschaftlichen Fruchtbarkeitstanz ebenfalls ritualisiert zur Schau stellen; mental Konrad Lorenz dabei: erheiternd). Ich reiche verbal eine Liste mit Namen mit denen und für die ich arbeite herüber und lasse sie mit ihrer tollen Vita kontern. Wie ein Hund wird sich dann angebiedert; dieses gleichzeitige unterordnen und gefallen wollen, damit ich streichle und Scooby Snacks vor ihre Füße werfe, und dennoch das Aufspielen als Alpha–Tierchen (so sinnvoll in so einem Dialog: Hund bleibt Hund). Es kommt zum hochzeremoniellen Austausch von Visitenkarten (ich erhalte: „Investor Relations“; ich gebe: „Freier Unternehmensberater“ und ein Versprechen, mich zu melden). Um der Gefahr der Trivialisierung dieser Unterhaltung aus dem Weg zu gehen wird mit dem Drink in der Hand ein anderer Gast aufgesucht; es wird das Beschnuppern wiederholt, aber der Stapel der Identitäten in rechteckiger Papierform wie Orden stolz an der Brust präsentiert („wie schade, dass da ein Jackett drüber ist“). Zu viele Wahrheitsförderer später siebe ich dann aus, und so sieht die Karte meines Exemplums (welche Auffassung von „persona grata“) in meinem Adressbuch verweilens– und pflegewert aus.

Ausarbeitung: ich rufe an, arrangiere ein Treffen und lasse Krümel kosten. Bei einem Essen in einem dieser Restaurants, wo solche Menschen gerne hingehen, um ihre erstarrten Emotionen durch Kenntnisse der Weinjahrgänge der letzten Dekaden zumindest als anspruchsvoll erscheinen zu lassen, schlage ich gemeinsame Projekte vor; ihr finanzieller Vorteil, mein psychopathologischer (Marcus Tullius Cicero: „Quid verba audiam, cum facta videam?“). Ich lasse wieder reden; schnell kenne ich auch ein paar private Details, an denen ich anknüpfen kann, um bei weiteren Treffen mehr zu erfahren („Dass Sie sich daran erinnern!“). Durch aufgabenorientierte Fragestellung erfahre ihren Ansatz zur Problemlösung, Kontrollfragen zur Verifizierung. Es ist schon fast zu leicht Einfluss zu nehmen, und von daher begleite ich meine Spielfigur bei ein paar Projekten: Koks zum pushen, Hurerei zur Entspannung, aber das ist zu erwarten und höhlt sie mehr aus – nur die Arbeit und die damit verbundenen monetären Aspekte (der Scheck als Form der Bestätigung) als Ziel; das ist okay, die Aufopferung ist gewiss. Von meiner Spielfigur weiß ich dann also auch bald: Die Liebe vergessen und aufgegeben und den Schmerz in Arbeitswut verwandelt – die Unfähigkeit, zu ruhen und sie neu zu entdecken, dafür verbittert und die Illusion, stattdessen hassen zu müssen. Der zu erwartende Ansatz, damit ich die Selbstaufgabe fordern kann.

Nach ein paar gemeinschaftlichen Projekten, weit genug auseinander, damit ich nicht mit der Tür ins Haus falle, aber nah genug aneinander („Aus den Augen, aus dem Sinn“ ließe mich wieder bei null anfangen), um die Boni für das Konto erreichbar zu wissen, lege ich dann eine etwas längere Pause an, um mein Interesse als das Interesse von ihr erscheinen zu lassen. Unter dem Vorwand eines besonders lukrativen Projektes schlage ich etwas vor, dass wie eine Genugtuung der Antipathie, die gehegt wird, wirkt, ohne es jedoch konkret zu erwähnen. Die Finalisierung der Überzeugung, diesem Fatalismus zu folgen und symbolisch ein Ende zu bereiten, als eigener Gedanke meiner Spielfigur, damit er echt ist, als selbst erfahren, und ausgeführt in dieser fanatischen Konsequenz; wie Paul Revere soll sie es nicht nur sagen, sondern leben: „Give me liberty or give me Death“ – auch wenn ich weiß, dass sie die Tragweite nicht versteht, aber wenn es so weit ist, für das natürlichste und altruistischste Motiv halten wird.

Detail: der Punkt ist da, wo ich fordern könnte, dass sie ihren Vater erschießt; nicht nur, weil sie für sich glauben würde, dass es moralisch gerechtfertigt sei, sondern sie dafür auch noch Unterstützung, Lob und Anerkennung bekommt. Fehlender Bezug zur Realität? Wer mit diesem Wahnsinn tanzt und so das Leben spürt, lässt sich eben ohne die vorherrschenden Regeln der eben auch diktierten Gesellschaft darauf ein. Der Auftrag aber für sie ist perfider: Ich trage ihr auf, das Vertrauen zweier Männer zu gewinnen: Der eine, im Moment diametral zu den Interessen, die ich vertrete, der andere, von dem ich die Bestätigung seiner Involvierung und Hingabe benötige. Interessen? Egal, ob aus der Sicht von Porter Goss, August Hanning oder dem, was Udo Ulfkotte aufzudecken glaubt, letztlich geht es nur darum, Informationen zu sammeln, einen Schritt voraus zu sein, und mehr als nur eine Ahnung zu haben, welchen Zug wir als Nächstes zu erwarten haben und dabei selbst Halbwahrheiten zu platzieren, die Hand zur Figur zu bewegen und dabei doch eine andere zu führen.

Komme ich also zurück auf das erste Objekt (es ist schon fast zynisch, dass sie diesen Mann in kleinem Rahmen einnehmen soll so wie ich sie, aber sie dafür genau das sieht, was sie bei Männern verallgemeinert für sich eingenommen hat), es soll eine Zeit lang beobachtet und begleitet werden, dieses und jenes verifiziert oder falsifiziert werden. Beim zweiten Objekt allerdings darf sie ihren Hass leben, die Liebe eines Mannes gewinnen und wissen, dass sie ihn nur benutzt, jemand, dessen Herz sie brechen darf (Miss Hevisham würde Estella wieder zur Adoption freigeben). Wie sie es dann realisiert ist interessant zu verfolgen, weil es nicht meinem direktem Plan entspringt, doch dass sie „ihre“ Ziele durchsetzt, ist mir gewiss.

Der Höhepunkt (und Finale) für sie dann: Beiwohnen eines Essens des ersten Objektes mit wichtigen Partnern (an einem weiteren beliebigen Ort, wo sich solche Menschen treffen, und wie symbolisch hier: auf der Spitze eines Berges); die letzte Bestätigung, die ich benötige, bringt sie dort in Erfahrung. Wie jeder einfache Höhepunkt ist auch dieser dann eigentlich sehr unspektakulär (als würde über Sex geredet, wochenlang, dann hat man ihn, und das war es, und man versucht, diese Episode zu vergessen) und fast schon enttäuschend kurz – dasitzen und zuhören. Um schnellstmöglich nach Erhalt der benötigten Informationen alles Weitere in die Wege leiten zu können, sitze ich (mit einem anderen Probanden meines Adressbuchs) an einem Tisch nicht weit von ihr, und wie erwartet erreicht sie ihr Ziel, begibt sich vom Tisch und steckt die Information in einen toten Briefkasten (YPS!) – und das war es. Das war mein Zug mit ihr.

Der wahre, feine Höhepunkt dieser kleinen Partie Schach kommt dann aber noch; mein Adressbucheintrag mir gegenüber ist ihr zweites Objekt, ihr manifestiertes emotionales Yang – der Mann, der in seiner Welt nun sein Verlangen leben darf. Er erhebt sich und geht ihr hinterher um das Erwartete zu tun. Das war mein Zug mit ihm – dabei war er nicht mal meine Spielfigur (eine Figur von den am anderen Tisch sitzenden Spielern um– und angeworben, um auf mein Schachbrett zu schauen und Figuren umzustellen): wie konnten die dahinten schon ahnen, dass er auch noch in ihrem Auftrag genau das tut, was ich ihm erst so aufwendig hätte indoktrinieren müssen. Das Aufräumen kann ich also getrost ihnen überlassen, denn sie müssen (Deep Blue hat über Kasparov gesiegt!).

Das Spiel geht weiter, und der nächste Zug: um einen Skandal zu vermeiden, wird der wohl inzwischen nicht mehr so andersdenkende Interessenvertreter aus der anderen Ecke des grauen Seins seinen Hut nehmen müssen (wahrscheinlich bleibt sein Kopf dabei am Hut – oder eine weitere Figur wechselt seinen Eigentümer).

Ein Blick in die Zeitung am nächsten Tag dann: „Quod erat demonstrandum.“

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