Als ich anfing, aus meinen Notizen die ÜBERSCHRIFTEN herauszuarbeiten und in Form zu gießen, hatte ich noch lange nicht daran gedacht, sie in irgendeiner Art und Weise zu kategorisieren. Ich war auch fernab davon, sie vor einen Hintergrund zu stellen: Sie ergaben sich daraus, mit was und wem ich mich gerade beschäftigt hatte. Und sie wollten aus mir raus, um rückblickend eine Erkenntnis einzufangen.

Nun habe ich seit einigen Jahren ein Selbstbild gepflegt, wie ich zum ersten Mal indirekt darüber bei Scott Adams1 und schließlich in ausführlicher Form bei Maxwell Maltz2 gelesen habe, nur direkte Zusammenhänge oder „Bedingungen“ zu diesen Rückblicken, zu den Erkenntnissen, die habe ich dabei nicht hergestellt.

Inzwischen habe ich mehr als 900 ÜBERSCHRIFTEN verfasst; seit über einem Jahr in etwa findest du tägliche Veröffentlichungen in den sozialen Medien, allen voran bei Instagram. Und nach einigen Diskussionen, Gesprächen und Kommentaren – nach diversen reality checks – sind mir dabei unter anderem zwei Dinge klar geworden:

  1. dass ich mittelfristig aus noch darüber zu schreibenden Gründen wahrscheinlich sehr wohl eine Kategorisierung sowohl für mich als auch für meine Fans benötige, und vor allem aber:
  2. dass die ÜBERSCHRIFTEN an einem Ereignishorizont vorbeigeflogen auf mich zurückgefallen sind, verfremdet und doch erkennbar, und ich mich fragen musste, ob ich meine Wahrnehmung von ihnen oder sie mich durch diese Wahrnehmung verändert haben.

Wenn ich von ganz praktischen Dingen während ihrer Reise absehe, wie von einer grundlegenden Überarbeitung der ÜBERSCHRIFTEN selbst aufgrund des einen oder anderen verloren gegangenen Kommas, aufgrund fehlinterpretierter oder durch mich falsch formulierte Individualisierung von Verantwortung, oder aufgrund nicht ausreichender Rücksichtnahme auf marginalisierte Menschen, dann merke ich, dass ich etwas naiv sowohl in der Art und Weise, wie ich die ÜBERSCHRIFTEN auf die Reise schickte, als auch in dem Umgang mit meinem Selbstbild selbst gewesen bin.

Oder anders: Dass es mein Selbstbild verlangt hat, die ÜBERSCHRIFTEN zu verfassen, aber dass das nicht die Verhaltensänderung in mir bewirkte, die ich auch in den ÜBERSCHRIFTEN selbst zusammengefasst habe.

Von einem meiner Vorbilder, Jenny Holzer, deren Installationen ich 2019 in Bilbao gesehen und sie mich so motiviert hatte, die ÜBERSCHRIFTEN in dieser Form umzusetzen, sollte ich dann in den Vorbereitungen zu diesem Text lesen, was sie über ihre „Truisms“ schrieb:

„The Truisms were written from many viewpoints as I tried to sort out what I believed and attempted to portray what other people think, to make a survey of beliefs.“

Jenny Holzer

Womit sie vortrefflich und bestens das beschreibt3, was sich mir erst bei einem Blick zurück auch als roter Faden offenbarte – und genauso offenlegte, dass ich bei meiner Umfrage nach Überzeugungen mich letztlich nicht selbst erneut befragt hatte.

Zufällig bin ich bei Recherchen zu den ÜBERSCHRIFTEN auf der Webseite meines liebsten Ex-Spions, wo ich mal wieder etwas über Richard Feynman las, auf dessen Konzept der „12 Favorite Problems“ gestoßen.4 Für meine mir wichtigen Ziele und für das, was ich schaffe, öffnete sich so ein Kontext, weil Fragen immer ein „warum“ beinhalten, worauf wohl auch kaum jemand anders treffender als Feynman hätte hinweisen können.

Als ich bei den ÜBERSCHRIFTEN bewegend darum gebeten worden bin, nicht länger „Idiot“ zu schreiben, hatte mir mein Selbstbild gezeigt, dass ich mir darüber Gedanken machen sollte, da ich mich als ein „Wir“-denkender Mensch definiere. Ich wusste also nur, dass ich es nicht länger tun sollte. Und als daraus eine Frage wurde, verbanden sich die Synapsen, die die Brücke zu den von mir formulierten Problemen bauten.

Als Ausgangspunkt halfen mir diese 12 Probleme, die vielleicht auch eine Inspiration für dich sein können:

  1. Trägt es zu Lösungsansätzen für die Menschheit bei und fördert ein globales „Wir“, ohne dabei den Weg des geringsten Widerstands zu gehen?
  2. Spricht es das einzigartige Wissen und die Fähigkeiten der Menschen um mich herum an, und kann es sie für einen würdigen und wünschenswerten Zweck mobilisieren?
  3. Kodifiziert es universelle Prinzipien der persönlichen Effektivität und Spitzenleistung?
  4. Trägt es dazu bei, ein ganzheitliches Modell zu entwickeln, was es bedeutet, ein Mensch zu sein?
  5. Verbringt es mehr Zeit an den Grenzen und in den Tiefen, wo unentdecktes und unsynthetisiertes Wissen lebt?
  6. Bedient es sich meines Unterbewusstseins für einzigartige Einsichten, anstatt die Ideen und Überzeugungen anderer neu zu verpacken, und pflanzt es neue Ideen oder animiert es zu neuen Taten?
  7. Vermeidet es mein Ego, um Ideen auf eine Art und Weise zu teilen, die zu Selbstreflexion und Verhaltensänderung führen, statt zu Widerstand – gehen sie einfühlsam mit dem Problem um, statt auf meiner Lösung zu beharren?
  8. Verringert es die Anzahl trivialer Entscheidungen, um mehr und schneller qualitative Entscheidungen treffen zu können?
  9. Entwickelt es den Fokus, die Disziplin und das Umfeld, um Handeln zu einem Standardzustand zu machen?
  10. Vermeidet es die Fallen der hedonistischen Tretmühle (Statussignale, übermäßiger Konsum, vergnügungssüchtiges Verhalten)?
  11. Lässt es zufrieden ins Bett gehen und aufwachen?
  12. Überwindet es Ängste und Selbstzweifel und fördert Liebe, um ein authentisches und sinnvolles Leben zu führen?

Mit meinen 12 Problemen konnte ich also für mich nicht nur klären, wo und wofür ich die ÜBERSCHRIFTEN sehe, sondern in diesem Prozess erkennen, wohin genau ich selbst dabei will – und vor allem auch für und in welchem Kontext. Und was ich dafür tun oder lassen muss, immer und immer wieder.5

Ein Selbstbild zeigt uns keinen Weg, so schön es gemalt und so detailverliebt es auch sein mag, sondern ein Ziel. Es ist letztlich ein Gemälde, ein idealisiertes Spiegelbild, eine Verlockung, wie wir uns selbst gerne sehen und gesehen werden würden. Das Selbstbild stellt uns nur keine Fragen, es beinhaltet keine Verantwortung und hält uns nicht auf dem Weg als Ziel; es zeigt uns verheißungsvoll einen Stern zum Navigieren, für den wir unser Raumschiff bauen wollen, nur damit der sich als unsere Sonne offenbart, der wir uns nähern, während das Wachs der damit befestigten Federn unserer erdachten Persönlichkeit an unseren Stiefeln schmilzt. Und zu den Sternen gelangen wir nicht, wenn wir uns eigentlich nur fragen, wie wir dabei aussehen.

Was es ist und wie es sein könnte; wie es ist und was es sein könnte: Kontext ist für König:innen.6

Fußnoten

  1. Scott Adams, „The Dilbert Future“. Auch, wenn Adams in dem Sinne im Anhang des Buches auf ein paar Seiten nur etwas über affirmations schreibt. ↩︎
  2. Maxwell Maltz, „Psycho-Cybernetics“. Ein etwas komischer Titel für eines meiner ersten Bücher rund um Persönlichkeitsentwicklung überhaupt. ↩︎
  3. Jenny Holzer nutzt für ihre Installationen inzwischen die Texte anderer Künstler:innen. ↩︎
  4. Serendipität! ↩︎
  5. Das ganz bewusste Entfernen ableistischer Begrifflichkeiten ist eine sofortige Konsequenz davon. ↩︎
  6. ÜBERSCHRIFTEN № 538↩︎