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Schmerz vermeiden führt zu mehr Schmerz

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In den letzten Jahren hatte Lars sehr intensiv an sich gearbeitet. Er hatte immer eine Tendenz, angsterfüllt und depressiv zu sein, und fragte sich, warum er so fühlte, obwohl er alles hatte, was er sich wünschen könnte: Gesundheit, eine Familie, einen guten Job, ein Haus, ein Auto. Er verdiente genug Geld, dass er sich nicht überlegen müsste, welche Rechnungen er erst nächsten Monat bezahlt.

Und trotzdem kam er sich wie ein Versager vor.

Ständig hatte er das Gefühl, dass er noch etwas Unbekanntes bräuchte, die eine Sache, und dass sein Leben dann wirklich anfangen würde. Dass ihn vielleicht der nächste Job glücklich machen würde. Vielleicht zu heiraten, Kinder zu haben, das Studium abzuschließen.

Und was er alles versuchte, um dieses Gefühl in den Griff zu bekommen: Hypnosetherapie, Meditation, Sport, Yoga, und überhaupt alles, was ihn vielleicht diesen tiefen Schmerz, den er verspürte, nicht mehr spüren zu lassen.

Lars schaffte es mehr oder weniger immer, sich von dem Schmerz abzulenken, nur hielt das nie lange vor. Und jedes Mal kam der Schmerz zurück, und jedes Mal erschreckte ihn das unermesslich. Er fragte sich, „Ich habe das doch geschafft. Warum kommt der Schmerz jetzt zurück?“

Er fühlte sich geschlagen, als würde er in einen langen Tunnel schauen, der immer länger, tiefer und dunkler wurde, egal, wie viel Fortschritt er machte.

Und gelegentlich ertappte er sich bei Gedanken, dass er hoffte, auf dem Weg zur Arbeit von einem Bus überrollt zu werden, damit das alles vorbei wäre, und es wenigstens ein Unfall gewesen sei.

Dann unternahm er sofort Dinge, um dieses Gefühl sofort wegsperren zu können. Er spürte die Knoten in seinem Bauch, während die Angst aufstieg, und selbst die lustigsten Filme, die tiefste Meditation oder auch Beruhigungsmittel versprachen nur kurzfristige Hilfe.

Lars entwickelte Ängste, wo und wann diese Ängste zuschlagen würden, und er mied Plätze, an denen diese Attacken besonders „unbequem“ wären: Kinos, Besprechungen, Flüge. Ängste, Ängste zu haben.

Lange Zeit glaubte er deshalb, eine angsterfüllte Person zu sein, und dass er immer diese Ängste haben würde. Er wusste, dass es Dinge gab, die er einfach niemals tun würde. Das ging so weit, dass er, als sein Chef ihn einmal fragte, ob er eine Präsentation für ein Gruppentraining machen könnte, stattdessen sofort nach einem neuen Job suchte, und die Firma verließ, bevor der Termin vor der Tür stand.

Lars fühlte sich gefangen. Er fing Dinge an, um seine Ängste in den Griff zu bekommen, nur würden die mehr Ängste hervorrufen, und er unterließ sie. Er fing an, sich sportlich zu betätigen, nur sobald er nicht mehr konnte, bekam er Angstattacken, weil er sich ohne Kontrolle fühlte.

Zwar lernte er nach und nach, die Symptome in den Griff zu bekommen, nur kam die Angst zurück.

Da fiel ihm etwas auf: Diese Ängste sind keine Krankheit – sie sind das Symptom von etwas Größerem, von etwas anderem.

Und für ihn war dieses Etwas das Verlassen werden in seiner Kindheit, und viele andere Probleme, die damit einhergingen. Und wichtiger, er fand den Grund, warum er das nicht vorher sehen konnte: Es war schlicht zu schmerzhaft für ihn.

Es war nicht nur schwer, sich einzugestehen, dass etwas von so viel früher ihn noch immer so sehr beeinflussen konnte, sondern auch die Einsicht, dass einfache und einzelne Gedanken und Menschen ihn gefühlt genau an diese Orte und Zeiten in seiner Vergangenheit zu teleportieren schienen. In einem Augenblick war er auf einmal der achtjährige Junge, der andere Menschen ansah wie Götter, und hoffte, etwas ihrer Anerkennung zu erhalten.

Für Lars war es bis zu dem Augenblick nicht klar, dass so viel in seinem Leben sich so sehr darum drehte, zu versuchen, die Bestätigung dieser Menschen zu erfahren.

Und so absurd es schließlich für ihn selbst klang: All das erschien ihm so viel einfacher, damit umzugehen, als in seine Vergangenheit zu gehen und das Durcheinander von Gefühlen und Erinnerungen zu entwirren.

Interpretation

Schmerz dient dem Schutz des Menschen vor ihm schädlichen Handlungen. Er ist der Grund, warum die meisten Eltern ihren Kindern beibringen, dass Herdplatten heiß sind, weil „heiß“ in Schmerz resultiert. Sollte ein Kind seine Hand dennoch auf eine Herdplatte legen, bleibt der intensive Schmerz so einprägsam, dass das Kind das sicherlich nicht noch einmal tun wird.

In gleicher Weise kann Schmerz im Inneren des Menschen – sowohl physisch als auch psychisch – als Warnung dienen, dass etwas nicht stimmt. Denn du weißt, was es heißt, sich „gut“ zu fühlen, da du weißt, was es heißt, sich schlecht zu fühlen.

Schmerz lehrt dich nicht nur, was du nicht tun solltest, sondern er lehrt dich auch, was du als Individuum aushalten und bewältigen kannst.

Dieser abgedroschene Spruch, „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“, wird uns aus einem triftigen Grund immer wieder gesagt: Er ist wahr. Schmerz hilft dir, mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten und Tiefpunkten des Lebens umzugehen – um den Mut zu entwickeln, den es braucht, um diese Schwierigkeiten und Tiefpunkte zu überwinden und weiterzumachen.

Ob es sich um einen zerbrechenden Schmerz handelt, wie den Verlust eines geliebten Menschen oder um einen Unfall, der jemanden lähmt, Schmerz wirkt sich bei jedem Menschen anders aus. Allerdings betrifft er immer noch jeden.

Alle, die eine Trennung erlebt haben, wissen, dass der Schmerz so sehr wehtun kann, dass er physisch erfahrbar wird, besonders bei der ersten Trennung. In jungen Jahren fühlt es sich an wie der Verlust der einzigen Liebe, die wir je kennengelernt haben. Wenn wir wachsen und lernen, merken wir, dass wir mit jeder beendeten Beziehung belastbarer werden.

Und doch bemühen sich die meisten Menschen sehr darum, Schmerzen zu vermeiden. Und dieses Vermeiden kann eine Ursache für chronischen Schmerzen werden.

Wenn Menschen verletzt werden, beginnen sie, die Verletzung mit der Handlung, die sie verursacht hat, in Verbindung zu bringen, und sie werden diese und andere Handlungen vermeiden. Kurzfristig kann das Vermeiden die Heilung fördern, im Laufe der Zeit allerdings kann die Angst vor Schmerzen mitunter chronische Schmerzen auslösen, die den Alltag maßgeblich beeinträchtigen – und das wiederum kann Auswirkungen wie Depressionen mit sich bringen.

Ziele, die Menschen mit dem Schmerz in Verbindung bringen, wie etwa die Beschwerden im unteren Rücken loszuwerden, können im Konflikt stehen mit Zielen, die sie sich gesetzt haben, wie dem Beenden des Projektes vor seiner Abgabefrist. Und Menschen, die beide Ziele gleichzeitig energisch verfolgen, berichten von noch größeren Schmerzen und einhergehenden Beeinträchtigungen.

Sich dem Schmerz zu stellen, oder, wenn es sich um eine körperliche Aktivität handelt, diese wieder aufzunehmen, lindert nicht nur den Schmerz, sondern fördert die Mobilität, sowohl geistig als auch körperlich. Dabei ist Angst zwar nicht die Quelle allen Schmerzes, sie beflügelt allerdings eine Abwärtsspirale, die erst dann aufhört, wenn du dich ihr stellst.

Schmerz ist unvermeidlich, begreife ihn positiv. Wer ein schmerzfreies Leben anstrebt, strebt nach Perfektionismus; und Perfektionismus garantiert Unzufriedenheit, denn nichts wird jemals perfekt sein.

Das ist keine Schwarzmalerei, sondern ein realistischer Blick auf die Dinge. Schließlich neigen die chaotischen Momente im Leben dazu, die besten Erinnerungen und Dankbarkeit zu erzeugen. Schmerz dient oft als Erinnerung an gelernte Lektionen, so wie Narben am Körper.

Schmerz wird immer schmerzhaft sein, doch sind es die verletzten Gefühle, die dir helfen, klügere Entscheidungen zu treffen.

Randbemerkung

Es ist generell keine vielversprechende Idee oder Ableitung daraus, mit der Erwartung von Schmerz in eine Situation zu gehen oder ihn gar zu suchen.


Dieser Text entstand ursprünglich für die zweite Version der ÜBERSCHRIFTEN.