Das Shibboleth-Manöver

Wir verbringen zu viel Zeit in Gesprächen, die ins Leere laufen. Wir tauschen Argumente aus, präsentieren Daten und glauben, wir führen einen einzigen Dialog, während wir in Wahrheit zwei verschiedene Sprachen sprechen, die nur zufällig dieselben Worte benutzen. Das Ergebnis ist eine subtile, aber zutiefst ermüdende Reibung. Eine Verschwendung von Energie.

Die Ursache ist oft eine unerkannte Asymmetrie im „Betriebssystem“ der Gesprächspartner:innen. Wie kann man diese Asymmetrie schnell und elegant aufdecken, ohne einen psychologischen Fragebogen auszuteilen?

Die Antwort ist ein uraltes, nachrichtendienstliches Konzept: das Shibboleth.

Der Begriff stammt aus dem Alten Testament. Gileaditische Wachen nutzten das Wort „Shibboleth“, um fliehende Feinde zu identifizieren, die aufgrund ihres Dialekts das „sch“ nicht aussprechen konnten. Wer „Sibboleth“ sagte, verriet seine wahre Herkunft und wurde entlarvt.

Ein Shibboleth ist eine diagnostische Sonde. Ein Wort, ein Konzept oder eine Frage, die scheinbar harmlos ist, aber deren Beantwortung das tiefere Weltbild, die Werte und die Entwicklungsstufe des Gegenübers unweigerlich offenbart. Es geht nicht darum, was die Person sagt, sondern wie sie auf das Signal reagiert.

Es ist die Kunst, eine Stimmgabel anzuschlagen und zu lauschen, welche Saite im anderen zu schwingen beginnt.

Hier sind drei solche Sonden, kalibriert für die verschiedenen „Betriebssysteme“, auf die wir in professionellen Kontexten oft treffen:

1. Die Sonde für Optimierer:innen

  • Das Shibboleth: Das Konzept eines „unendlichen Spiels“ (Infinite Game).
  • Die Reaktion: Optimierer:innen, deren Welt aus gewinnbaren Quartalen und erreichbaren Zielen besteht, werden die Philosophie anerkennen, aber sofort versuchen, sie in sein endliches System zu zwängen. Sie werden fragen: „Okay, aber wie hilft uns das, unsere Jahresziele zu toppen?“ Die Reaktion ist eine Umwandlung des Konzepts in eine kurzfristige, messbare Taktik. Du weißt sofort: Ihr primärer Fokus ist das Gewinnen des aktuellen Spiels, nicht das Ändern der Spielregeln.

2. Die Sonde für Sucher:innen

  • Das Shibboleth: Die Kegan'sche Frage: „Wessen Erwartungen versuchst du gerade zu erfüllen – deine eigenen, oder die des Systems, die du zu deinen eigenen gemacht hast?“
  • Die Reaktion: eine nachdenkliche Stille. Ein Innehalten. Die Antwort wird oft zögerlich sein: „Das ist eine gute Frage …“ Sucher:innen sind nicht frustriert von der Frage, sondern fasziniert. Sie erkennen darin die exakte Beschreibung ihrer eigenen inneren Zerrissenheit. Die Frage selbst ist für sie der Wert. Du weißt: Diese Personen sind bereit, die eigene Rolle im System zu reflektieren.

3. Die Sonde für Strateg:innen

  • Das Shibboleth: Die Frage nach den Zweit- und Drittordnungs-Effekten: „Angenommen, diese Initiative ist ein voller Erfolg. Welches neue, unerwartete Problem schaffen wir dadurch an anderer Stelle im Ökosystem?“
  • Die Reaktion: keine Abwehr, sondern unmittelbares Engagement auf der gleichen Ebene. Strateg:innen werden die Frage als Einladung zum Denken annehmen und sofort beginnen, systemische Konsequenzen durchzuspielen. „Interessant. Das würde Team X zum alleinigen Gatekeeper für Ressource Y machen, was langfristig deren Autonomie untergräbt und eine neue Form von Silo-Denken fördert …“ Du weißt: Du sprichst mit jemandem, der von Natur aus in vernetzten Systemen und langen Zeitlinien denkt.

Der Einsatz eines Shibboleth ist kein Akt der Arroganz oder der Abgrenzung. Es ist ein Akt der strategischen Empathie. Es erlaubt dir, dein Gegenüber dort abzuholen, wo es wirklich steht. Es erspart beiden Seiten die Frustration, aneinander vorbeizureden. Es ist ein Manöver zur Schärfung des eigenen Lagebildes.

Meine Frage an dich: Was ist dein verlässlichstes Shibboleth, um die Denkweise deines Gegenübers zu kalibrieren?