Vom Gewebe zum Staat
Das Gewebe überlebt, wenn der Kopf schon lange nicht mehr da ist.
Wir sehen erschöpfte Giganten wandeln, und unsere Reaktion darauf ist ein Reflex aus einer vergangenen Epoche: Wir rufen nach einem besseren Piloten.
Wenn Regierungen an der Polykrise scheitern, suchen wir nach dem „starken Mann“, der durchgreift und die Komplexität mit dem Schwert teilt. Wenn Konzerne ins Trudeln geraten, hoffen wir auf den visionären CEO, der den Kurs mit eiserner Hand korrigiert. Wenn die Welt unübersichtlich wird, sehnen wir uns nach einer zentralen Intelligenz – sei es ein Gott, ein Präsident oder eine Super-KI –, die den Überblick behält und Ordnung in das Chaos bringt.
Frank Herbert schrieb seinen Roman Dune explizit als Warnung vor genau diesem Impuls: „Hüte dich vor Helden.“ Sobald wir alle Hoffnung auf den einen Auserwählten, den „Kwisatz Haderach“, projizieren, machen wir das System von einem einzigen Single Point of Failure abhängig. Wenn der Pilot blind wird, stürzt die Menschheit ab.
Wir leiden an einer tief sitzenden kognitiven Verzerrung, einem Erbe des mechanistischen Weltbildes: dem Glauben, dass Intelligenz zentralisiert sein muss. Dass Ordnung nur durch explizite Anweisung entsteht und Systeme zwingend einen zentralen Prozessor brauchen, um zu funktionieren. Wir verwechseln Kontrolle mit Ordnung.
Das ist der fundamentale Denkfehler der Moderne, der Versuch, organische Komplexität durch bürokratische Geometrie zu zähmen. Solange wir versuchen, unsere Gesellschaften wie Maschinen zu steuern, die von einem zentralen Homunculus abhängen, werden wir an der Varietät der Welt scheitern. Die Natur hat dieses Problem vor Millionen Jahren gelöst – mit einer Architektur, die wir in der Kybernetik und der Biologie gerade erst wiederentdecken.
Der Geist im Gewebe
Wenn ein Plattwurm der Gattung Planaria in Stücke geschnitten wird, geschieht etwas, das unser Verständnis von Identität herausfordert: Jedes Stück wächst zu einem vollständigen Wurm nach, inklusive Kopf, Schwanz und Organen. Noch verblüffender ist, dass sich der nachwachsende Wurm an den Weg durch ein Labyrinth erinnert, den der ursprüngliche Wurm gelernt hatte – selbst wenn das Gehirn, das diese Information vermeintlich speicherte, abgetrennt wurde. Wo saß die Erinnerung? Wo war der Bauplan gespeichert?
Die Antwort aus der aktuellen Biologie ist eine Absage an den Zentralismus: Die Intelligenz sitzt nicht exklusiv im Gehirn, sondern diffundiert im Gewebe. Der Biologe Michael Levin von der Tufts University zeigt: Jede Zelle besitzt eine „Multi-Skalen-Kompetenz“. Sie ist kein passiver Baustein, sondern ein Akteur, der weiß, was zu tun ist, um ein Auge, eine Leber oder einen Schwanz zu bauen, solange sie mit ihren Nachbarn kommunizieren kann. Der Körper speichert Erfahrungen; das Trauma und das Wissen sitzen in der Somatik, nicht nur im Kortex.
Das „Gehirn“ des Wurms fungiert dabei weniger als ein CEO, der jeden Handgriff mikromanagt, als vielmehr wie ein PR-Sprecher oder ein Interface für grobe Richtungsentscheidungen. Die eigentliche Schwerarbeit, wie Reparatur und Anpassung, erledigt das Gewebe selbst durch lokale Kommunikation und bioelektrische Signale, die etwa melden: „Hier fehlt ein Kopf, wir bauen einen neuen.“
Wir hingegen haben unsere Staaten und Unternehmen nach dem Modell der Lesbarkeit gebaut, wie es der Politikwissenschaftler James C. Scott in seinem Standardwerk Seeing Like a State beschrieb. Um einen Wald zu verwalten, macht der Staat ihn zum Forst: Monokulturen, die in Tabellen passen. Dabei geht Mētis verloren – das lokale, praktische, situierte Wissen, das wir brauchen, um das System tatsächlich am Leben zu erhalten. Wir haben die Intelligenz an der Spitze konzentriert und die Kompetenz an der Basis wegrationalisiert.
Die Architektur der Termiten
Wie bauen wir eine Kathedrale ohne Architekt:innen? Termiten errichten meterhohe Kühltürme mit perfekter Belüftung und Temperaturkontrolle, ganz ohne Bauplan oder brüllenden Vorarbeiter. Keine einzelne Termite weiß, wie der Turm am Ende aussehen soll, und doch entsteht er.
Sie nutzen einen Mechanismus, den der Zoologe Pierre-Paul Grassé Stigmergie nannte – Arbeit (ergon), die durch Zeichen (stigma) in der Umwelt gesteuert wird.
Das Prinzip ist simpel, aber radikal: Eine Termite platziert einen mit Pheromonen versetzten Lehmklumpen. Dieser dient als chemisches Zeichen, das andere Termiten stimuliert, ihren eigenen Klumpen genau dort abzulegen. Ein wachsender Haufen riecht stärker und zieht mehr Arbeiter an. Säulen wachsen empor. Wenn zwei Säulen eine bestimmte Höhe erreichen, ändert sich der Luftstrom – ein neues Zeichen –, und die Termiten beginnen, den Bogen zu schließen.
Wir sehen dieses Prinzip in Stanislaw Lems Klassiker Der Unbesiegbare: Ein hochgerüstetes Raumschiff der Menschen, die ultimative Verkörperung zentralisierter Macht, scheitert an einem Schwarm winziger, toter Kristalle. Diese Kristalle haben keinen Anführer und keinen Plan, aber sie reagieren aufeinander und bilden temporäre Netzwerke, die jede Strategie der Menschen durch bloße Anpassungsfähigkeit und Redundanz ausmanövrieren.
Die Bauanleitung steht nicht in den Genen der Termite (oder den Schaltkreisen der Kristalle), sondern sie wird in die Umwelt ausgelagert. Der Bauprozess selbst diktiert den nächsten Schritt. Es ist kein „Habit“ einzelner Akteur:innen, sondern „Habitat Design“: die Gestaltung einer Umgebung, die intelligentes Verhalten wahrscheinlicher macht.
Das Bandbreiten-Problem des Diktators
Warum scheitern zentrale Planwirtschaften, kollabieren Imperien und wirken moderne Demokratien oft handlungsunfähig?
Der Kybernetiker W. Ross Ashby formulierte in den 1950ern das „Gesetz der erforderlichen Varietät“. Vereinfacht besagt es: Um ein komplexes System zu steuern, muss das Steuerungssystem mindestens so viele Zustände annehmen können wie das System selbst. Nur Varietät kann Varietät absorbieren.
Das ist das Todesurteil für das Modell „Zentralhirn“. Die Welt ist unendlich komplex und chaotisch – Wetterumschwünge, Pandemien, neue Technologien. Kein zentrales Komitee besitzt die Bandbreite, diese Varietät in Echtzeit zu erfassen. Das „Gehirn“ wird zum Flaschenhals.
In der Serie Andor sehen wir die Imperiale Sicherheitsbehörde an genau diesem Problem scheitern. Sie sammeln alle Daten der Galaxis, wollen alles „lesbar“ machen, aber sie ertrinken im Rauschen. Während das Imperium an seiner eigenen Zentralisierung erstickt, organisiert sich die Rebellion als rhizomatisches Netzwerk ohne Zentrum, das durch lokale Autonomie und Geschwindigkeit gewinnt.
Das neomittelalterliche Chaos, das wir erleben, ist das Geräusch, das entsteht, wenn zentrale Steuerungssysteme an ihre physikalischen Grenzen stoßen und die Realität sich gegen ihre Vereinfachung wehrt.
Wenn Schleimpilze U-Bahnen bauen
Es gibt eine Alternative, die zwar nicht nach Ordnung aussieht, aber Ergebnisse liefert, die jedes Zentralkomitee beschämen.
2010 platzierten japanische Forscher einen Schleimpilz, den Physarum polycephalum, in die Mitte einer Petrischale, umgeben von Haferflocken, die wie die Städte im Großraum Tokio angeordnet waren. Der Schleimpilz breitete sich aus, suchte Nahrung, zog sich zurück und verstärkte die effizientesten Verbindungen.
Nach 26 Stunden hatte der Pilz ein Röhrennetzwerk gebildet, das die Haferflocken verband. Im Vergleich mit dem echten U-Bahn-Netz von Tokio zeigte sich ein fast identisches Bild. Das Netzwerk des Pilzes war jedoch in einigen Aspekten widerstandsfähiger gegen Ausfälle. Der Pilz operierte jenseits von „Effizienz“ im betriebswirtschaftlichen Sinne; er operierte mit Redundanz.
Wir sehen dieses Prinzip heute dort, wo der Staat versagt. Als Hurrikan Harvey 2017 Houston flutete, war die zentrale Katastrophenschutzbehörde FEMA überfordert. Was funktionierte, war die Cajun Navy: Tausende Privatleute mit Booten, die sich über Apps wie Zello organisierten. Ein Notruf (ein digitales Pheromon) wurde abgesetzt, und wer in der Nähe war, fuhr hin. Keine zentrale Einsatzleitung, nur Signale und Reaktionen. Stigmergie in Gummistiefeln.
Auch das ukrainische Verteidigungsnetzwerk zu Beginn der Invasion funktionierte so: kleine, autonome Einheiten, lokale Entscheidungen. Ein Gewebe, das seinen OODA-Loop schneller durchlief als die starre russische Hierarchie Befehle funken konnte.
Eine Politik des Gewebes
Wenn wir den Fokus vom Gehirn auf das Gewebe verlagern, ändern sich unsere Lösungen. Die Sehnsucht nach dem „großen Staatsmann“ entpuppt sich als nostalgischer Fehler. Wir brauchen keine besseren Piloten für die Maschine; wir müssen aufhören, Maschinen zu bauen, die Piloten brauchen.
Eine Politik des Gewebes fragt nicht: „Wer soll entscheiden?“, sondern: „Welche Signale und welche Constraints brauchen wir, damit die richtigen Entscheidungen von selbst getroffen werden?“
Wikipedia funktioniert nach diesem Prinzip. Niemand weist Autor:innen an, einen Artikel über einen obskuren Käfer zu schreiben. Ein roter Link (ein fehlender Artikel) ist ein stigmergisches Signal: „Hier fehlt etwas.“ Jemand sieht es und füllt die Lücke.
Für die Demokratie bedeutet das einen Wandel: weg von der reinen Auswahl von Eliten, die das „Gehirn“ spielen sollen, hin zum Design von Räumen, in denen kollektive Intelligenz emergieren kann. Taiwans „vTaiwan“-Prozess ist der Versuch, digitale Pheromone zu nutzen, um Konsens sichtbar zu machen, statt nur Lärm zu verstärken.
Antifragilität durch Redundanz
Das Gehirn-Modell ist auf Effizienz getrimmt: Alles läuft zusammen, keine Doppelarbeit, Just-in-Time. Aber wenn das Zentrum fällt, stirbt der Körper. Es ist ein fragiles System.
Das Gewebe-Modell ist auf Antifragilität getrimmt, ein Konzept von Nassim Nicholas Taleb. Levins Plattwürmer überleben, weil jede Zelle ein Stück weit weiß, wie ein Ganzes gebaut wird. Das ist Redundanz – in den Augen eines Controllers „Verschwendung“, in einer unvorhersehbaren Welt jedoch die einzige Lebensversicherung.
Wir bewegen uns in eine Ära, in der die zentralen Säulen wackeln. Wer darauf wartet, dass eine Zentrale die Lösung funkt, wird lange warten.
Die Zukunft gehört den Systemen, die lokal kompetent sind: Städten, die sich selbst versorgen; Netzwerken, die sich selbst reparieren; Gemeinschaften, die Signale lesen und handeln, ohne auf Genehmigung zu warten.
Wir müssen aufhören, nach dem Kopf zu suchen, den wir krönen können, und anfangen, das Gewebe zu pflegen, das uns trägt. Das ist weniger heroisch, es befriedigt nicht unser Bedürfnis nach großen Retterfiguren, und es gibt keine Statuen für das Gewebe. Aber das Gewebe überlebt, wenn der Kopf schon lange nicht mehr da ist.