Solarpunk und das Neue Seltsame
Der Algorithmus hat einen Geschmack, und er ist Vanille.
Ein Blick auf Netflix, Spotify oder Airbnb genügt: Alles konvergiert gegen einen globalen Mittelwert. Filme werden so produziert, dass niemand abschaltet; Songs so komponiert, dass sie in jede Playlist passen. Innenarchitektur wird so gestaltet, dass sie auf Instagram funktioniert, egal ob in Berlin, Bali oder Brooklyn.
Adam Mastroianni nennt das den Verlust der „Deviance“ – der Abweichung. Wir optimieren die Reibung weg und glätten die Kanten. Wir produzieren Kitsch, weniger im Sinne von Gartenzwergen als vielmehr in der Definition Milan Kunderas: Kitsch als die absolute Leugnung dessen, was am Leben inakzeptabel, schmutzig oder verwirrend ist.
Das erinnert an Cayce Pollard, die Protagonistin aus William Gibsons Roman Mustererkennung, die eine physische Allergie gegen Markenlogos und generisches Design entwickelt hat. Sie leidet körperlich unter der Glätte der Welt – eine pathologische Reaktion auf den Verlust der Reibung. Eine Kultur ohne diese Abweichung ist tot, ein geschlossener Kreis, der nur noch sich selbst recycelt.
Doch an den Rändern, dort, wo der Algorithmus noch nicht hinsieht oder verwirrt ist, regt sich etwas. Zwei Bewegungen proben den Ausbruch. Die eine setzt auf radikale Hoffnung, die andere auf radikales Unbehagen. Beide bergen Gefahren, die wir verstehen müssen.
Das Neue Seltsame
Wenn Kitsch die Glättung der Welt bedeutet, ist das „Neue Seltsame“ (The New Weird) ihr Aufreißen.
Jeff VanderMeers Southern Reach-Trilogie – oder ihr geistiger Vorfahre, Picknick am Wegesrand der Strugatzki-Brüder – beschreibt eine Zone („Area X“), in der die Natur sich verändert. Sie wird weniger feindselig als vielmehr fundamental anders. Menschen verwandeln sich in Pilze, Worte wachsen an Wänden, die Logik von Ursache und Wirkung löst sich auf. Das ist kein Horror, der besiegt werden muss, sondern eine Begegnung mit dem absolut Fremden.
Der Kulturtheoretiker Mark Fisher unterschied zwischen dem Weird (das, was nicht hierher gehört) und dem Eerie (das, was da ist, wo nichts sein sollte). Das Neue Seltsame konfrontiert uns mit Dingen, die sich nicht in unsere Verwertungslogik pressen lassen. Ein Pilz, der aus einem Laptop wächst, ist nicht „nützlich“ oder „optimiert“. Er ist einfach da und verlangt, dass wir unsere Kategorien ändern.
In einer Welt, die auf Vorhersagbarkeit getrimmt ist – von Recommendation Engines bis Predictive Policing –, ist das Seltsame der ultimative Widerstand. Es lässt sich weder vorhersagen noch in einen Marketing-Funnel stecken. Es ist der Sand im Getriebe der Optimierungsmaschine. Wir brauchen mehr Seltsamkeit – nicht als Flucht, sondern als Training, um Immunität gegen den Mittelwert zu entwickeln.
Solarpunk: Jugendstil mit Photovoltaik
Die zweite Bewegung wählt den entgegengesetzten Weg hin zum Schönen, wenngleich zu einer bestimmten Art von Schönheit.
Solarpunk ist die Antwort auf Cyberpunk. Während Cyberpunk eine Zukunft aus High-Tech und „Low-Life“ prophezeite, in der es immer regnet und Konzerne regieren, fragt Solarpunk: „Was, wenn es klappt?“
Die Ästhetik ist verführerisch: von Pflanzen überwucherte Jugendstil-Architektur, Wolkenkratzer aus Holz und Glas, Windräder, die wie Kunstwerke aussehen. Technologie wird nicht versteckt, sondern ist reparierbar, dezentral und verständlich.
Doch Solarpunk ist mehr als eine Pinterest-Ästhetik; es ist gelebte Praxis. Sie manifestiert sich im Mesh-Netzwerk in New York City, wo Nachbarn Antennen auf Dächer schrauben, um unabhängig von Providern wie Comcast ihr eigenes Internet zu bauen. Sie zeigt sich in der Right-to-Repair-Bewegung, die das Recht fordert, Traktoren und iPhones selbst zu reparieren. Und sie lebt im Gemeinschaftsgarten in Detroit, der neben Tomaten auch soziale Resilienz anbaut.
Es ist der Versuch, die Technologie aus den Händen der Giganten zu nehmen und sie in das Gewebe der Gesellschaft zurückzuholen.
Der Schatten im Grünen
Hier ist jedoch Vorsicht geboten, denn Solarpunk hat Fans, die ihn missverstehen wollen.
Betrachten wir die Renderings von Praxis, einer geplanten Krypto-Stadt am Mittelmeer, oder die Visionen von Balaji Srinivasan für den Network State. Die Ästhetik ist Solarpunk – weiße Türme, viel Grün, saubere Energie –, aber die Struktur darunter ist neomittelalterlich.
Für die Sovereign Individuals, jene Tech-Eliten auf der Suche nach dem Exit, ist Solarpunk das perfekte Tarnkleid. Es verspricht Autarkie: „Ich produziere meinen eigenen Strom, ich drucke mein eigenes Essen, ich brauche keinen Staat.“ Was nach Freiheit klingt, ist oft nur die Freiheit, die Brücken hinter sich hochzuziehen.
Es ist das Szenario eines jeden Bond-Bösewichts, modernisiert durch das Silicon Valley. Im Film Kingsman will der Tech-Milliardär Valentine die Erde retten, indem er das „Virus Mensch“ dezimiert und nur ausgewählte Eliten in sicheren Bunkern bewahrt. Die Ästhetik dieser Rettung ist sauber und effizient, die Moral dahinter zutiefst faschistoid.
Es gibt eine unheimliche Nähe zwischen der „Zurück zur Natur“-Romantik und protofaschistischen Ideen. Autarkie, Reinheit und geschlossene Kreisläufe funktionierten auch in der „Blut und Boden“-Ideologie. Wenn Solarpunk bedeutet, ein Paradies für wenige zu bauen, während der Rest der Welt draußen in der Hitze bleibt, ist das kein Fortschritt, sondern Öko-Faschismus mit besserem Design.
Eine Solarpunk-Villa, die von bewaffneten Drohnen bewacht wird, ist kein Solarpunk. Sie ist ein Bunker mit Wintergarten.
Eine Anleitung zum Abweichen
Die Herausforderung besteht also darin, die Kraft dieser Bewegungen zu nutzen, ohne in ihre Fallen zu tappen. Wir müssen das Seltsame und das Solare verbinden.
Solarpunk braucht das Weird, um nicht totalitär zu werden. Eine saubere, perfekte Utopie ist verdächtig. Das Leben ist schmutzig, chaotisch, pilzartig. Ein Solarpunk-Garten ist nicht getrimmt wie ein Golfplatz; er wuchert, er kompostiert, er stinkt manchmal. Er ist ein Metabolismus, kein Monument.
Umgekehrt braucht das Seltsame den Solarpunk, um nicht im reinen Horror zu enden. Wir brauchen Visionen, wie Technologie uns helfen kann, statt uns nur zu entfremden.
Wir müssen uns von der Dichotomie zwischen Utopie, dem unerreichbaren Perfekten, und Dystopie, dem unvermeidlichen Untergang, lösen. Was wir brauchen, ist das, was Kevin Kelly Protopie nennt: ein Zustand, der heute ein kleines bisschen besser ist als gestern. Nicht perfekt, aber inkrementell verbessernd. Es ist die „ambivalente Utopie“, wie sie Ursula K. Le Guin in Die Enteigneten beschrieb: Eine Gesellschaft, die funktioniert, nicht weil sie im Überfluss schwimmt, sondern weil sie die soziale Reibung zulässt und Solidarität zur Überlebensstrategie macht.
Die wahre Abweichung besteht heute nicht im Rückzug in eine Fantasiewelt, sei es eine Krypto-Zitadelle oder ein VR-Spiel. Sie besteht darin, in der Realität Reibung zu erzeugen.
Das geschieht, indem wir Dinge reparieren, die wir wegwerfen sollen, oder lokale Netzwerke bauen, die nicht skalieren müssen. Es zeigt sich in Kunst, die verstört statt sofort zu gefallen, und in einer Technologie, die genutzt wird, um uns zu verbinden – dem Gewebe –, statt uns in Bunkern zu isolieren.
Der Ausbruch aus dem Mittelwert gelingt nicht durch die Flucht zum Mars, sondern indem wir hier unten anfangen, andere Geschichten zu erzählen. Geschichten, die vielleicht ein bisschen seltsam sind. Ein bisschen schmutzig. Aber lebendig.
Bild: „The Eye Like a Strange Balloon Moves Towards Infinity“ (Odilon Redon, 1882) {Glitch}