Der Nebel hatte keine Farbe mehr.
Das war dem Fährmann irgendwann aufgefallen, ohne dass er hätte sagen können, wann genau. Früher – aber wann war früher? – hatte der Nebel noch Grau besessen, Silber, manchmal sogar einen Hauch von Perlmutt, wenn das Licht … aber welches Licht? Es gab kein Licht hier, nur die Idee von Helligkeit, die gerade ausreichte, um Schatten von Schatten zu werfen.
Er stand am Steg. Unter seinen Füßen waren die Planken feucht, aber als er hinsah, waren es keine Planken mehr. Es waren Rippen. Riesige, graue Rippen, die sich nicht bewegten, aber trotzdem atmeten. Er blinzelte. Planken. Natürlich. Planken aus Holz, das nie trocknete, aber auch nie wirklich nass war.
Aber er konnte den Geruch noch riechen. Knochen und Salz.
Seine Hände umklammerten die Stange, mit der er die Fähre stieß. Die linke fühlte sich an wie Holz – oder war es die Stange, die sich wie Fleisch anfühlte? Er konnte nicht mehr sagen, wo seine Finger aufhörten und das Holz begann. Ein Reflex, keine Notwendigkeit. Oder war es umgekehrt? Die Fähre würde auch ohne ihn fahren. Oder nicht fahren. Der Unterschied verschwamm.
Klack.
Schritte auf dem Steg. Hölzern, hohl, wie aus einer Erinnerung an Schritte. Der Fährmann hob den Kopf nicht. Er wusste, wie sie aussahen, die Ankommenden. Verwirrt. Durchscheinend an den Rändern. Noch halb in der Gewohnheit des Atmens gefangen, obwohl die Lungen nur noch die Geste vollführten, nicht mehr die Funktion.
„Ich … ich muss hinüber.“
Eine Frauenstimme. Jung, aber das spielte keine Rolle. Alle klangen jung hier, selbst die Alten. Der Tod machte Kinder aus allen.
„Die Münze“, sagte der Fährmann. Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor, als hätte er sie von jemandem geliehen und vergessen, sie zurückzugeben.
Die Frau – ein Schatten in Frauenform – streckte die Hand aus. Darauf lag eine Münze. Der Fährmann starrte sie an. Rund war sie, metallisch, geprägt mit … mit was? Er konnte es nicht erkennen. Nicht mehr. Die Münzen hatten aufgehört, Gesichter zu tragen. Oder er hatte aufgehört, Gesichter zu sehen.
Er nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie war kalt. Oder warm. Oder beides. Als er sie drehte, sah er, dass beide Seiten identisch waren. Nicht gespiegelt. Identisch. Als hätte jemand die Münze in der Mitte durchgeschnitten und die gleiche Hälfte zweimal aufgeklebt.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte die Frau. In ihrer Stimme schwang Panik mit – die letzte Emotion, die die Toten sich leisten konnten, bevor auch sie zur Gewohnheit wurde.
„Die Münze“, wiederholte der Fährmann. Er hielt sie gegen das nicht-vorhandene Licht. „Sie ist …“
Leer. Das Wort kam ihm nicht über die Lippen. Die Münze war leer. Nicht wertlos – Wert war ein Konzept, das hier keine Bedeutung hatte. Aber leer. Ein Zeichen, das auf nichts mehr verwies. Ein Symbol ohne Symbolisierten.
Er leckte sich über die Lippen. Sie schmeckten nach Metall. Nach ihrer Münze.
„Es ist alles, was ich habe“, sagte die Frau. „Man hat sie mir gegeben. Auf die Augen gelegt. Für die Überfahrt.
Der Fährmann nickte langsam. Man hatte sie ihr gegeben. Wer war 'man'? Die Lebenden, vermutlich. Die noch an Münzen glaubten, an Überfahrten, an andere Ufer. Die noch nicht verstanden hatten, dass es nur Zeichen von Zeichen gab, Kopien von Kopien.
Er steckte die Münze in seinen Beutel. Der Beutel war schwer von tausenden solcher Münzen. Oder leicht. Er konnte es nicht mehr unterscheiden.
„Steig ein.“
Die Frau bewegte sich zur Fähre. Ihre Schritte verursachten keine Wellen im Wasser, aber das Wasser erinnerte sich trotzdem. Kleine Vertiefungen blieben zurück, als hätte jemand mit dem Finger in Staub gemalt. Dann füllten sie sich wieder auf, wie rückwärts laufende Zeit.
Der Fährmann folgte ihr, die Stange in der Hand. Als er einen Fuß auf die Fähre setzte, spürte er es wieder – dieses Zerren. Als würde ein Teil von ihm am Ufer bleiben wollen, während der andere bereits auf dem Wasser war. Er kannte das Gefühl. Es begleitete ihn seit …
Seit wann?
Die Frage hallte in seinem Kopf wider, fand aber kein Echo. Nur Stille, die sich als Antwort ausgab.
„Wohin fahren wir?“, fragte die Frau.
„Auf die andere Seite.“
„Was ist dort?“
Der Fährmann stieß die Stange ins Wasser. Es gab keinen Widerstand. Es gab nie Widerstand.
„Die andere Seite“, wiederholte er.
Aber während er die Worte sprach, während die Fähre sich in Bewegung setzte – oder die Illusion von Bewegung vollführte – spürte er, wie sein toter Teil (war es der linke? der rechte? der innere?) sich zu erinnern versuchte. An etwas. An jemanden. An einen Grund.
Es war wie der Versuch, sich an einen Traum zu erinnern, während man träumte. Oder sich an das Wachen zu erinnern, während man tot war. Oder sich an den Tod zu erinnern, während man …
Was war er eigentlich?
Die Frau saß auf der Bank. Ihre Hände lagen im Schoß gefaltet, aber die Finger waren zu lang. Nicht monströs. Nur … zu lang. Als hätte jemand vergessen, wo Finger aufhören sollten. Sie sah ihn an, und in ihren Augen – die keine richtigen Augen mehr waren, nur die Erinnerung an die Funktion von Augen – lag eine Frage.
„Sie nehmen manchmal etwas mit“, hörte er sich sagen. „Die Passagiere.“
„Mit? Wohin?“
„Zurück. Die Lebenden können sie noch sehen. Kurz. Wenn sie … wenn sie etwas für mich tun.“
Die Worte kamen automatisch, ein Skript, das er nicht geschrieben hatte. Oder nicht mehr erinnerte, geschrieben zu haben.
Die Frau lehnte sich zurück. „Was müsste ich tun?“
Der Fährmann öffnete den Mund, aber keine Antwort kam. Was sollte sie tun? Was hatte er all die anderen tun lassen? Es musste wichtig gewesen sein. So wichtig, dass er seine Position hier riskierte, die Regeln bog, die … welche Regeln?
„Ich muss jemanden finden“, begann er und stockte.
„Wen?“
Die Fähre glitt durch den Nebel. Oder der Nebel glitt um die Fähre. Bewegung war relativ, wenn alles stillstand.
Der Fährmann schloss die Augen. Oder öffnete sie. Es machte keinen Unterschied mehr. „Es gab ein Gesicht. Mein Gesicht. Ich stand davor und wollte sehen, wie es stirbt. Aber als ich hinsah, war ich schon tot. Oder noch nicht geboren. Ich weiß es nicht mehr.“
„Du suchst deinen Tod?“
„Ich suche den Moment, in dem ich aufgehört habe, einer zu sein.“
Die Frau nickte, als verstünde sie. Aber wie konnte sie verstehen, was er selbst nicht verstand?
„Ich war Buchhalterin“, sagte sie unvermittelt. Ihre Zähne waren perfekt, als sie sprach. Zu perfekt. Wie Münzen in einer Reihe. „Ich habe Zahlen in Spalten geschrieben. Zahlen, die auf andere Zahlen verwiesen, die auf wieder andere verwiesen. Am Ende wusste niemand mehr, was die erste Zahl bedeutet hatte. Aber die Bilanz stimmte immer. Das war das Wichtigste. Dass die Bilanz stimmte, auch wenn nichts mehr stimmte.“
Der Fährmann hielt inne. Die Stange hing nutzlos im Wasser.
„Die Münzen“, sagte er und ließ eine durch seine Finger gleiten. Sie fiel nicht. Sie vergaß zu fallen. „Sie sind wie deine Zahlen. Zeichen ohne Bedeutung.“
„Bezahlung ohne Wert.“
„Handel ohne Ware.“
„Tod ohne Sterben.“
Sie sahen sich an. Die Münze schwebte noch immer zwischen seinen Fingern, unentschlossen. Und für einen Moment – einen echten Moment, nicht die Simulation eines Moments – verstanden sie sich.
„Was soll ich den Lebenden sagen?“, fragte sie.
Der Fährmann versuchte sich zu erinnern. Was hatte er den anderen aufgetragen? Welche Botschaften hatten sie überbracht? Aber da war nur Leere, gefüllt mit der Erinnerung an Leere.
„Sag ihnen …“, er stockte. „Sag ihnen, sie sollen nach dem Fährmann fragen. Nach dem, der nicht ganz tot ist.“
„Werden sie dich kennen?“
„Nein. Aber sie werden so tun als ob. Wie sie so tun, als würden die Münzen etwas bedeuten. Als gäbe es ein anderes Ufer.“
Die Fähre hatte aufgehört, sich zu bewegen. Oder hatte nie aufgehört. Oder hatte nie angefangen. Sie hingen im Nebel, der keine Farbe mehr hatte, über Wasser, das nicht nass war, auf dem Weg zu einem Ufer, das es vielleicht nicht gab.
„Und wenn ich zurückkomme?“, fragte die Frau. „Mit einer Antwort?“
Der Fährmann sah auf seine Hände. Die eine war blass, durchscheinend, tot. Die andere hatte noch Farbe, Wärme, Leben. Oder bildete er sich das nur ein? Wenn er lange genug hinsah, konnte er nicht mehr sagen, welche welche war.
„Dann“, sagte er, „erinnere ich mich vielleicht daran, warum ich vergessen wollte.“
Ende Akt I.
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