FN 29-3: Die Logik der Agilität (Teil 3 von 4)
Die Organisation ist geeint, kompetent und orientiert. Sie ist agil. Die meisten Führungskräfte glauben nun, das Ziel sei erreicht. Sie behandeln Agilität wie eine Stoppuhr, als ginge es darum, das bekannte Rennen einfach nur schneller zu laufen.
Das ist ein fundamentales Missverständnis. Der Zweck von Agilität ist nicht Effizienz im alten Spiel, sondern die Gestaltung eines neuen Spiels. Sie ist der Hebel, um eine vorteilhaftere Realität zu schaffen, an die sich der träge Wettbewerb nicht anpassen kann. Sein Problem ist nicht, dass er angegriffen wird. Sein Problem ist, dass das Spiel sich schneller verändert, als er lernen kann.
Die Lähmung des Wettbewerbs ist die Folge seiner tief verankerten „Immunität gegen Veränderung“. Er ist nicht nur langsam; er ist psychologisch und strukturell unfähig, auf eine adaptive Herausforderung anders zu reagieren als mit den Werkzeugen seines alten Erfolgs. Seine bisherigen Stärken werden zu den Mauern seines Gefängnisses. Sein OODA-Loop ist gebrochen, er verharrt im „OO-OO“-Stottern – im endlosen Zyklus zwischen Beobachten und Orientieren, unfähig zu einer Entscheidung, weil seine mentalen Karten sich unter ihm auflösen.
Eine agile Organisation nutzt diesen Zustand nicht, um zu vernichten. Sie nutzt ihn, um durch drei Manöver eine neue Ordnung zu etablieren.
1. Das Manöver der Zeit: den Markt neu takten
Tempo ist nicht Geschwindigkeit. Tempo ist die Fähigkeit, den Rhythmus des Marktes selbst zu definieren. Das Ziel ist, durch eine hohe Kadenz an schnellen, unvorhersehbaren Initiativen die Erwartungen der Kund:innen und die Dynamik des Wettbewerbs so neu zu formen, dass die Realität der Gegner:innen ihre Relevanz verliert.
Honda hat im „H-Y War“ nicht einfach nur Yamaha angegriffen. Honda hat mit 113 neuen Modellen in 18 Monaten den Markt neu darüber unterrichtet, was Innovation und Vielfalt bedeuten. Yamaha versuchte, im alten Spiel der Produktverbesserung mitzuhalten, während Honda ein neues Spiel der ständigen Erneuerung spielte. Yamaha wurde nicht besiegt; sie wurden irrelevant, weil sie die Sprache des neuen Marktes nicht mehr sprachen.
2. Das Manöver des Systems: die Spielregeln ändern
Der eleganteste Wandel zielt nicht auf das Produkt des Wettbewerbs, sondern auf die ungeschriebenen Regeln seines Geschäftsmodells. Eine agile Organisation nutzt ihre Flexibilität, um die Grundannahmen des Wettbewerbs auszuhebeln und eine neue, überlegene Logik zu etablieren.
Dell hat nicht versucht, einen besseren Computer für den Einzelhandel zu bauen. Dell hat den Einzelhandel umgangen und eine direkte Beziehung zu den Kund:innen geschaffen. Für die etablierten Anbieter stellte das eine adaptive Herausforderung dar, weil ihre größte Stärke – ihre Vertriebsnetze – sie systemisch an das alte Modell fesselte. Ihre eigene Immunität gegen Veränderung verhinderte eine adäquate Antwort.
3. Das Manöver der Wahrnehmung: die Realität der Gegner:innen zersetzen
Das ist die subtilste Form strategischen Gestaltens. Die agile Organisation orchestriert ein Zusammenspiel von cheng
und ch'i
, um die Realität der Gegner:innen von innen heraus aufzulösen.
cheng
ist die erwartbare, orthodoxe Aktion. Ein direkter Angriff, eine Preissenkung, eine Werbekampagne. Sie bindet die Aufmerksamkeit und die Ressourcen der Gegner:innen. ch'i
ist die unerwartete, unorthodoxe Aktion. Sie untergräbt die Annahmen des Spiels selbst. Sie ist der Hebel.
Das cheng
ist die sichtbare Aktivität, die die Aufmerksamkeit und Ressourcen des Wettbewerbs bindet. Das ch'i
ist das subtile, aber entscheidende Manöver, das die neuen Spielregeln einführt – oft unbemerkt und in einem ganz anderen Bereich. Während der Wettbewerb seine Energie darauf verwendet, auf das cheng
zu reagieren, etabliert die agile Organisation das ch'i
als neuen Standard.
Die so geschaffene Mehrdeutigkeit führt beim Wettbewerb zur Analyse-Paralyse. Er kann nicht mehr entscheiden, welches Spiel gespielt wird, was Signal und was Rauschen ist. Er ist nicht besiegt. Er ist desorientiert in einer neuen Welt, deren Entstehung er verpasst hat.
Diese drei Manöver führen zu einer fundamentalen Entscheidung. Das alte Spiel war endlich, ein Nullsummenspiel mit dem Ziel, die Gegner:innen zu schlagen. Das neue Spiel aber ist unendlich. Sein Ziel ist nicht zu gewinnen, sondern im Spiel zu bleiben – also: dauerhaft relevant, innovativ und resilient zu sein.
Ein solches unendliches Spiel ist paradoxerweise wettbewerbsfähiger und gesünder. Es ist gesünder für die Menschen im System, weil es auf Vertrauen, Lernen und Anpassungsfähigkeit basiert anstatt auf Angst und Kontrolle. Eine Organisation, die intern auf die Entwicklung ihrer Mitglieder setzt, statt sie auszubrennen, ist von Natur aus resilienter.
Und es ist gesünder für das gesamte Marktumfeld. Anstatt Energie in die Zerstörung des Wettbewerbs zu investieren, wird sie in die Schaffung von echtem Mehrwert für die Kund:innen gelenkt. Die Aufgabe ist nicht, den Kuchen anders zu verteilen, sondern ihn für alle zu vergrößern.
Dieser Wandel vom endlichen zum unendlichen Spiel ist jedoch keine rein strategische Entscheidung. Er zwingt uns, zwei fundamentale Fragen zu beantworten.
Die erste Frage ist nach außen gerichtet: Gestalten wir ein System, das so anpassungsfähig und wertschöpfend ist, dass es nicht nur ein Spiel gewinnt, sondern das gesamte Spiel zum Besseren verändert?
Und die zweite, ungleich schwierigere Frage, blickt nach innen: Sind wir bereit, jene interne Freiheit, jenes radikale Vertrauen zu kultivieren, die eine solche Strategie nicht nur ermöglichen, sondern überhaupt erst denkbar machen?
Dieser Text ist die dritte von vier Feldnotizen zum Thema Auftragstaktik.