FN 29-4: Der lebende Vertrag (Teil 4 von 4)
Wir sind am Ende unserer Reise und zugleich an ihrem entscheidenden Punkt. Bevor wir den letzten Schritt tun, blicken wir zurück, um die Höhe zu ermessen, von der wir nun springen. Wir haben das Fundament gelegt, die Karte gezeichnet und die Logik des Manövers verstanden.
Ein geeintes Team, eine klare Karte, eine brillante Strategie. Das Arsenal scheint vollständig. Doch die entscheidende Frage bleibt unbeantwortet: Wie bleibt dieses System aus Vertrag, Karte und Logik lebendig? Wie verhindern wir, dass der Vertrag zu einem vergilbten Dokument wird, die Karte zu einer veralteten Darstellung und die Logik zu einer dogmatischen Formel? Wie stellen wir sicher, dass das, was wir geschaffen haben, atmet, lernt und sich an eine unbarmherzige Realität anpasst?
Die Antwort liegt nicht in einer weiteren Methode, sondern im unbarmherzigen Verständnis der Bedrohung. Die eigentlichen Gegner:innen sitzt bereits mit am Tisch. Sie sind unsichtbar und tragen das Gesicht eines systemischen Naturgesetzes und das eines psychologischen Schutzmechanismus.
Die doppelte Bedrohung
Jedes System, das wir erschaffen, trägt den Keim seines eigenen Zerfalls in sich. Diese Bedrohung manifestiert sich auf zwei Ebenen.
1. Die systemische Bedrohung: das Axiom der Dysfunktion
Es ist ein unerbittliches Naturgesetz komplexer Systeme: Sie neigen dazu, zu versagen. Mehr noch, sie neigen dazu, sich ihrem eigenen, ursprünglichen Zweck zu widersetzen. John Gall formulierte dieses Axiom präzise: Ein funktionierendes komplexes System ist ausnahmslos aus einem funktionierenden einfachen System hervorgegangen. Ein komplexes System, das am Reißbrett entworfen wird, funktioniert niemals. Es lässt sich auch nicht zur Funktion reparieren. Du musst von vorne anfangen, mit etwas Einfachem, das wirkt.
Unser Vertrag, unsere Karte und unsere Strategie bilden zusammen ein solches komplexes System. Sich selbst überlassen, wird es unweigerlich von Entropie und Dysfunktion befallen. Es wird bürokratisch, starr und selbstbezogen. Die Regeln werden wichtiger als das Ziel. Dies ist die äußere, systemische Bedrohung – das Ticken einer Zeitbombe, die in der DNA jeder Organisation verborgen ist.
2. Die psychologische Bedrohung: die organisationale Autoimmunerkrankung
Die zweite Bedrohung ist subtiler, aber ungleich mächtiger. Sie kommt von innen. Warum widersetzen sich intelligente, engagierte Menschen den klügsten Veränderungen, selbst wenn sie die Notwendigkeit rational verstehen? Die Antwort ist keine Frage des Willens, sondern ein Phänomen, das Robert Kegan und Lisa Lahey als „Immunität gegen Veränderung“ beschreiben.
Dieses Phänomen ist ein brillantes, aktives Selbstschutzsystem. Tief in uns hegen wir verborgene, konkurrierende Ziele (competing commitments), die im Widerspruch zu unseren erklärten Zielen stehen. Diese verborgenen Ziele werden von unbewussten, fundamentalen Annahmen (big assumptions) darüber getragen, wie die Welt funktioniert und wie wir überleben müssen.
Ein Team mag sich voll und ganz zur „radikalen Transparenz“ bekennen (erklärtes Ziel). Gleichzeitig hegen seine Mitglieder:innen das verborgene Ziel, „niemals inkompetent zu wirken“ oder „niemals die Harmonie zu gefährden“. Diese konkurrierenden Ziele, getragen von der großen Annahme „Wenn ich einen Fehler zugebe, verliere ich meinen Status“, schaffen eine mächtige Immunität gegen die angestrebte Transparenz. Das System schützt sich selbst vor genau dem, was es braucht, um zu überleben. Es ist eine organisationale Autoimmunerkrankung.
Das Gegenmittel: der OODA-Loop als Wahrheitsritual
Dieser doppelten Bedrohung begegnest du nicht mit einem besseren Plan oder einer neuen Struktur. Du begegnest ihr mit einem unbarmherzigen Prozess: der Institutionalisierung von radikal ehrlichen Feedback-Ritualen.
Hier schließt sich der Kreis. Der OODA-Loop ist mehr als eine Strategie; er ist der fundamentale metabolische Zyklus eines jeden lebenden, lernenden Systems. Er ist der Prozess, der die Realität permanent mit dem eigenen Modell abgleicht und die Abweichung korrigiert.
Das Geräusch „OO-OO-OO“ ist der Klang eines sterbenden Systems. Es beobachtet (Observe) und orientiert sich (Orient), aber es scheitert an der Entscheidung (Decide) und der Handlung (Act). Es steckt in einer Endlosschleife aus Analyse und Zögern fest, gelähmt durch systemische Komplexität und psychologische Angst.
Radikal ehrliche Feedback-Rituale sind die einzige Kraft, die diesen Kreislauf durchbricht und den Loop am Laufen hält. Sie sind keine Meetings. Sie sind die institutionalisierte Wahrheitssuche einer Organisation. Ihr Zweck ist es, die Diskrepanz zwischen dem Vertrag (was wir sagen) und der Realität (was wir tun) aufzudecken. Sie sind der Mechanismus, um die „Immunität gegen Veränderung“ an die Oberfläche zu zwingen und die fundamentalen Annahmen sichtbar zu machen, die unser Handeln wirklich steuern.
Der lebende Vertrag stellt sich vor
Wenn diese Feedback-Rituale aufhören, ein gelegentliches Instrument zu sein und stattdessen zum zentralen Betriebssystem der Organisation werden, geschieht etwas Entscheidendes. Die Organisation wird zu dem, was Kegan und Lahey eine bewusst entwicklungsorientierte Organisation (Deliberately Developmental Organization, DDO) nennen.
In einer solchen Organisation werden Fehler, Konflikte und Unsicherheiten nicht als Probleme betrachtet, die es zu eliminieren gilt. Sie sind das Curriculum. Die tägliche Arbeit ist das Übungsfeld, auf dem die Veränderungsimmunität jedes Einzelnen und des Teams aufgedeckt und überwunden wird. Die Kultur ist so gestaltet, dass es für jede:n Einzelne:n auf lange Sicht „teurer“ ist, die eigenen Schwächen zu verbergen, als sie offenzulegen und daran zu arbeiten. Das System macht es unmöglich, nicht zu lernen.
Eine solche Organisation:
- Lebt den OODA-Loop: Jede Interaktion ist eine Gelegenheit, die eigene Orientierung zu überprüfen und anzupassen.
- Konfrontiert die Immunität: Sie schafft sichere, aber schonungslose Räume, in denen die fundamentalen Annahmen aufgedeckt und getestet werden können.
- Meistert das Gesetz der Dysfunktion: Sie bekämpft die systemische Neigung zum Zerfall durch permanente, dezentrale Anpassung.
In diesen Organisationen ist der Vertrag nicht mehr nur eine Idee. Er ist fleischgeworden in den täglichen Praktiken der Menschen. Er lebt.
Das unendliche Spiel
Unsere Reise durch diese Serie hat uns von der inneren Kultur zur äußeren Realität, von der strategischen Absicht zur permanenten Erneuerung geführt.
- Der Vertrag gab uns die Seele.
- Die Karte gab uns die Augen.
- Die Logik gab uns die Hände.
- Der lebende Vertrag gibt uns den Herzschlag.
Ein System, das auf radikal ehrlichen Feedback-Ritualen basiert und sich der Überwindung seiner eigenen Veränderungsimmunität verschreibt, maximiert nicht den Erfolg in einem gegebenen Umfeld; es maximiert die Fähigkeit zur Anpassung an jedes erdenkliche Umfeld.
Das ist das Wesen des unendlichen Spiels. Das Ziel ist nicht, zu gewinnen, sondern weiterspielen zu können. Die Absicht ist nicht, die beste Organisation zu sein, sondern die beste darin zu werden, eine bessere Organisation zu werden.
Der lebende Vertrag ist der Motor dieser endlosen Reise.
Wir begannen mit der Idee der Auftragstaktik. Wir begannen die Reise mit einer Frage nach einer Methode. Wir dachten, Auftragstaktik sei etwas, das man anwendet. Wir erkennen nun: Sie ist nichts, was man anwendet. Sie ist eine Konsequenz. Es ist das, was unweigerlich entsteht, wenn eine Organisation den Mut hat, sich selbst und ihre verborgenen Widersprüche unaufhörlich zu konfrontieren. Eine solche Organisation praktiziert nicht Auftragstaktik. Sie ist Auftragstaktik.
Dieser Text ist die vierte von vier Feldnotizen zum Thema Auftragstaktik.