FN 32-2: Das Handwerk der Kohärenz (Teil 2 von 3)

Du hast die Architektur der „Physik der Kohärenz“ verstanden. Du siehst das Potenzial eines Systems, das den „zweiten, unbezahlten Job“ abschafft. Und nun stehst du im Nebel der Praxis und stellst die einzig relevante Frage: „Und wie jetzt?“

Die Versuchung ist groß, nach einer detaillierteren Karte zu suchen, einem Schritt-für-Schritt-Plan. Das wäre der erste Fehler. Es hieße, den Bauplan einer Violine mit der Kunst der Geigerin zu verwechseln. Die „Physik der Kohärenz“ beschreibt ein Instrument; dieser Text beschreibt das Handwerk, es zu spielen.

Das Handwerk selbst ist keine Ansammlung von Techniken. Es ist eine Haltung, eine geschulte Wahrnehmung. Die Kunst des Organization Designs geht über eine einmalige Installation hinaus und wird zu einem unermüdlichen Prozess der Anpassung. Ein ständiges Kalibrieren von Form und Kontext.

Diese Praxis entfaltet sich nicht im luftleeren Raum. Sie benötigt ein Fundament und operiert über drei zentrale Hebel.

Das Fundament: der sichere Raum

Bevor die Hebel überhaupt angesetzt werden können, muss der Boden bereitet sein. Das Handwerk der Kohärenz erfordert eine Umgebung, in der die Beteiligten es wagen können, den sprichwörtlichen „zweiten, unbezahlten Job“ – das Verbergen von Schwächen und das Managen von Eindrücken – aufzugeben. Das erfordert die bewusste Schaffung eines psychologischen Sicherheitsvertrags, einer „Holding Environment“, wie Kegan sie nennt. In diesem Raum ist es sicher genug, Annahmen zu hinterfragen, Fehler offenzulegen und Verletzlichkeit zu zeigen, ohne Status oder Zugehörigkeit zu riskieren. Ohne diesen Container, dieses Vertrauenskapital, ist jede der folgenden Interventionen zum Scheitern verurteilt. Die Schaffung dieses Raumes ist kein vorbereitender Schritt, sondern die andauernde, primäre Aufgabe.

Hebel 1: der diagnostische Akt – das Terrain lesbar machen

Konventionelle Strateg:innen lieben ihren Plan, der aus der sterilen Höhe der Abstraktion kommt. Handwerker:innen der Kohärenz fangen im Nebel der Realität an. Es ist der Unterschied zwischen dem Studium einer Seekarte und dem Spüren der Strömung am Ruder.

Vom Plan zum Lagebild

Die erste Handlung ist nicht Planung, sondern das Schaffen eines gemeinsamen Lagebilds. Die Frage lautet nicht: „Wie setzen wir das Modell um?“, sondern: „Was geschieht hier wirklich?“ Wer spricht mit wem? Wo stockt die Information? Wo wird Energie vernichtet? Handwerker:innen wissen um das „Grundgesetz Administrativer Abläufe“ von John Gall: Die Dinge sind das, was über sie berichtet wird. Seine erste Aufgabe ist es, hinter diesen Bericht zu blicken und die Realität von der Fiktion zu trennen, die das System über sich selbst produziert.

Die Frage hinter der Frage stellen

Der diagnostische Akt geht tiefer als das reine Beobachten. Er hinterfragt die Prämisse der Beobachtung selbst. Wir richten die analytische Linse, die wir sonst auf den Markt oder den Gegner richten, auf uns selbst. Wir hören auf, aus unseren Annahmen heraus zu agieren, und fangen an, auf unsere Annahmen zu blicken. Wie Donella Meadows es andeutet: Streben wir das richtige Ziel an? Oder optimieren wir eine Kennzahl, die das eigentliche Ziel pervertiert? Wie Gall es formulieren würde: Ist unser Hauptproblem vielleicht die brillante Lösung, die wir gestern implementiert haben? Liegt der Fehler in der Art, wie wir die Frage überhaupt formulieren?

Die verborgene Dynamik aufdecken

Die entscheidende Disziplin ist, die unsichtbaren Kräfte zu erkennen, die das Verhalten steuern. Das schließt die Immunity to Change ein – die verborgenen, konkurrierenden Verpflichtungen, die Individuen und Teams daran hindern, sich zu verändern, obwohl sie es rational wollen. Wir machen die unbewussten Ängste und Loyalitäten, das kollektive Subjekt, zum Objekt der gemeinsamen Analyse. Jede frustrierende Endlos-Diskussion ist ein Symptom, das es zu lesen gilt, kein Problem, das es zu lösen gilt.

Der diagnostische Akt schafft Bewusstsein. Ohne es ist jede Intervention blinder Aktionismus.

Hebel 2: die gezielte Intervention – das Manöver einleiten

Mit einem geteilten Lagebild wird präzises Handeln ermöglicht. Die Praxis der Intervention in einem komplexen System folgt jedoch nicht der Logik des großen Wurfes, sondern der eines gezielten, reversiblen Manövers.

Kleine, reversible Sonden

Konventionelle Planer:innen lieben den „Big Bang“ – die auf Hochglanz polierte Transformation, die in der Realität als Rohrkrepierer endet. Handwerker:innen der Kohärenz misstrauen jedem Plan ohne Rückzugsmöglichkeit. Sie agieren mit kleinen, reversiblen Experimenten. Jede Intervention wird als Hypothese behandelt: „Wir setzen für zwei Wochen eine neue Meeting-Struktur an und bewerten danach ehrlich, ob sie Reibung reduziert oder erzeugt hat.“ Das ehrt ein fundamentales Axiom von John Gall: Ein komplexes System, das funktioniert, ist ausnahmslos aus einem einfachen System hervorgegangen, das funktioniert hat.

Die Ausnutzung von Reibung

Stabilität ist der Feind der Veränderung. Handwerker:innen warten nicht auf die große Krise; sie nutzen die alltägliche Reibung. Manchmal lassen sie einen schwelenden Konflikt kontrolliert eskalieren – nicht aus Destruktivität, sondern um die systemische „Immunity to Change“ für alle sichtbar zu machen. Sie schaffen den Schmerzpunkt, an dem die Realität nicht länger ignoriert werden kann. Das Ziel ist nicht, das Meer zu beruhigen. Die Absicht ist, die Welle der Instabilität zu surfen, um an einen neuen Ort zu gelangen.

Die gezielte Intervention schafft Bewegung. Ohne sie bleibt Bewusstsein eine passive Einsicht.

Hebel 3: das kulturelle Weben – die neue Normalität verankern

Die nachhaltigste Veränderung entsteht nicht durch Regeln, sondern durch die Verschiebung dessen, was als „normal“ empfunden wird. Protokolle sind nur das Gerüst; die Kultur ist das lebendige Gewebe.

Vom Protokoll zur gelebten Praxis

Ein Protokoll wie „Fehler als Datenstrom ehren“ wird nicht durch einen Beschluss lebendig, sondern durch eine einzige, mutige Handlung mit hohem Symbolwert. Es wird Realität, wenn die Führungskraft nach einem gescheiterten Manöver nicht nach Schuldigen sucht, sondern vor dem Team steht und sagt: „Das war meine Fehleinschätzung. Hier sind die drei Annahmen, die falsch waren. Lasst uns das zerlegen.“ Diese eine Handlung hat mehr Gewicht als hundert Hochglanzfolien über Fehlerkultur.

Die Macht der Narrative

Handwerker:innen wissen, dass Organisationen auf Geschichten laufen. Sie rahmen diese symbolischen Handlungen bewusst. Sie rahmen die Geschichte vom gescheiterten Manöver um zur Gründungslegende der neuen Lernkultur und überwinden so das Narrativ des reinen Versagens. Sie etablieren eine gemeinsame Sprache, die das neue Denken verkörpert, und machen die neue Art zu handeln zur plausibleren, attraktiveren und letztlich einfacheren Option.

Das kulturelle Weben schafft Gravitation. Ohne sie fällt das System in alte Muster zurück.

Das Paradoxon des Gerüsts

Warum ein so strukturiertes, fast rigides Framework für ein organisches, adaptives Ergebnis? Liegt hier nicht ein Widerspruch vor?

Das ist die zentrale Spannung, die es zu meistern gilt. Die „Physik der Kohärenz“ ist kein Gefängnis. Sie ist ein Spalier für eine Kletterpflanze. Eine junge Pflanze ohne Struktur wächst unkontrolliert am Boden und verkümmert. Das Spalier bietet Halt und zwingt die Pflanze in die Höhe, zum Licht. Gute Gärtner:innen wissen jedoch, wann die Pflanze stark genug ist, um selbst zu tragen, wann das Spalier seine Funktion erfüllt hat.

Das Framework der Kohärenz-Zelle ist ein bewusst gewähltes, post-konventionelles Werkzeug, um eine Gruppe aus einer konventionellen Logik herauszuführen. Es ist eine künstliche Struktur, die den Raum schafft, in dem echte, organische Kohärenz wachsen kann. Sein ultimativer Erfolg bemisst sich daran, wie schnell es überflüssig wird – wenn die Protokolle von expliziten Regeln zu impliziten, gelebten Reflexen geworden sind.

Die ständige Verwechslung des Spaliers mit der Pflanze, des Werkzeugs mit dem Ziel, ist die primäre Pathologie, die es zu beobachten gilt.

Der Bauplan ist eine Notwendigkeit. Das Handwerk ist die Kunst.


Dieser Text ist die zweite von vier Feldnotizen zum Thema Kohärente Zelle.