FN 36: Angriffe aus dem Nebel

In der klassischen Operationsführung war die Welt kompliziert, aber geordnet. Ein Angriff war ein Ereignis, ein scharfer Bruch der Normalität. Die zentrale Herausforderung war die Attribution: die saubere, beweisbare Zuordnung einer Tat zu Akteur:innen. Das Wer war die Variable, die es zu lösen galt.

Diese Epoche ist vorbei. Die neue Physik des Konflikts ist diffuser. Der Angriff ist kein singuläres Ereignis mehr, sondern ein permanenter, atmosphärischer Zustand. Ein Rauschen. Eine erwartbare Reibung. Das Was – die verdampfende Absicht, der subtile Informationskrieg, der leise Tod von Initiativen – ist zur neuen Normalität geworden. Und das Wer? Ein Phantom im Nebel, dessen Konturen durch die Demokratisierung von Taktiken und Werkzeugen bis zur Unkenntlichkeit verwischt sind.

Es gibt eine alte buddhistische Lehrerzählung, die unsere Lage präzise seziert. Ein Mann wird von einem vergifteten Pfeil getroffen. Seine Begleiter wollen einen Arzt rufen, doch der Mann weigert sich. Zuerst will er wissen: Wer hat geschossen? Aus welcher Kaste stammt er? Mit welchem Gift wurde der Pfeil bestrichen? Der Mann, so die Lehre, stirbt an seiner Analyse des Angriffs, bevor die Behandlung überhaupt begonnen hat.

Unsere Jagd nach den Schuldigen ist die Perfektion dieser Selbstsabotage. Es ist ein Glitch im System, der unsere Energie auf eine Frage lenkt, die für das Überleben irrelevant ist, und uns so davon abhält, die entscheidende Handlung auszuführen.

Eine resiliente Reaktion akzeptiert die neue Physik. Sie verschwendet keine Energie auf die Jagd im Nebel, sondern fokussiert sich auf die einzig relevante Operation: den Pfeil zu ziehen und die Wunde zu versorgen.

Eine antifragile Reaktion geht weiter. Sie behandelt den Pfeil, nachdem er entfernt wurde, als wertvollen Datenstrom. Der Fokus verschiebt sich vom unbekannten Wer des Angreifers zum bekannten Wie der eigenen Verteidigung. Aus Beschaffenheit und Einschlagwinkel des Pfeils wird die Blaupause für eine stärkere Panzerung: Die Regeln, Prozesse und Kultur des Systems werden so kalibriert, dass der nächste Pfeil sein Ziel verfehlt. Oder gar nicht erst abgeschossen wird.