FN 47: Fünf Kalibrierungen für das unendliche Spiel
Feldnotiz
Wer sich an Karten hält, verirrt sich im Gelände.
Unbekannte Quelle, Prinzip der Kommando-Taktik
Es gibt einen Kodex für das Navigieren in Organisationen. Er lautet: „Formuliere endliche Ziele. Vereinfache die Komplexität. Konzentriere dich auf das Positive. Halte dich an bewährte Methoden. Nutze deinen Informationsvorsprung.“
Dieser Kodex ist kein Fehler. Er ist ein Überlebensprotokoll für Systeme, die auf Vorhersagbarkeit optimiert sind – für endliche Spiele.
Der Glitch
ist, dass die entscheidenden Spiele nicht endlich sind. Der Kodex, der dich im Quartal überleben lässt, ist die Architektur, die deine langfristige Handlungsfähigkeit zerstört. Die Jagd nach dem grünen KPI ist die exakte Dynamik, die dich für das eigentliche Spielfeld blind macht.
Die wirksamste Intervention ist deshalb nicht, die Regeln des Kodexes besser anzuwenden. Die wirksamste Intervention ist es, ihn gezielt zu brechen, um die Perspektive auf das Spiel selbst neu zu kalibrieren. Das erfordert, heilige Kühe zu schlachten.
Fünf dieser notwendigen Kalibrierungen:
1. Die Fata Morgana des Ziels
Ein endliches Ziel – „Wir steigern den Marktanteil um 5 %“ – erzeugt einen Rausch der Betriebsamkeit. Aber was kommt danach? Ein Vakuum und das nächste, ebenso endliche Ziel. Eine unendliche Absicht – „Wir werden der vertrauenswürdigste Akteur in unserem Feld“ – ist kein Ziel, das du erreichst. Es ist ein Kompass. Diese Kalibrierung opfert die Illusion kurzfristiger Klarheit für langfristige Kohärenz. Sie zwingt dich, jede Entscheidung an einer fundamentaleren Frage zu messen. Das ist anstrengend. Es beendet aber das ständige Re-Briefing nach jedem erreichten Gipfel.
2. Der Kult der Simplizität
Der Ruf nach „Einfachheit“ führt oft zur gefährlichen Simplifizierung des Terrains. Klarheit entsteht nicht durch das Ausblenden von Komplexität, sondern durch die disziplinierte Reduktion auf den Schwerpunkt – den einen Punkt, an dem minimaler Aufwand maximale Wirkung im System erzeugt. Clausewitz nannte es den „Schwerpunkt der ganzen Kraft“. Ihn zu finden, ist eine nachrichtendienstliche Höchstleistung. Es ist die Kunst, im Lärm das entscheidende Signal zu erkennen, anstatt den Lärm leiser zu drehen.
3. Die Tyrannei des Positiven
Jede Krise, jeder Widerstand, jeder Fehler ist ein Datensatz. Die konventionelle Reaktion ist die positive Umdeutung: die Suche nach dem „Silver Lining“, um die Moral zu heben. Das ist eine intellektuelle Flucht. Eine nachrichtendienstliche Perspektive fragt nicht: „Was lernen wir daraus?“, sondern: „Welche Information über die Physik des Systems liefert uns dieser Vorfall, die wir bisher nicht hatten?“ Reibung ist kein Betriebsunfall, sie ist ein Sensor. Sie enthüllt die wahren Machtverhältnisse, die verborgenen Loyalitäten und die realen Prozesse. Das Scheitern kühl zu sezieren, ist der direkteste Weg zu einem validen Lagebild.
4. Die Falle der „Best Practice“
„Best Practice“ ist die Kodifizierung des Erfolgs von gestern. Sich daran zu klammern, ist eine formelle Einladung, von der Zukunft überrannt zu werden. Eine überlegene Position gewinnst du nicht durch Brainstorming, sondern durch einen Wechsel des Beobachtungspostens. Physisch: Verlasse den Konferenzraum, gehe an die Front, sprich mit denen, deren Realität von deinen Entscheidungen geformt wird. Mental: Führe ein Red-Team-Manöver gegen dich selbst. Frage nicht: „Wie können wir gewinnen?“, sondern: „Unter welchen Bedingungen wäre unser Scheitern absolut unausweichlich?“ Das Unorthodoxe ist kein Akt der Kreativität, sondern der Disziplin, die eigene Wahrnehmungsblase gezielt zu fluten.
5. Das Kartell des Wissens
In den meisten Systemen ist Information Macht. Sie wird gehortet, gefiltert und als Währung eingesetzt. Das schafft Informationsmonopole und verlangsamt den kollektiven Entscheidungszyklus (OODA-Loop) bis zur strategischen Lähmung. Radikale Transparenz – das offene Teilen von Lagebildern, Absichten und sogar Zweifeln – ist kein Akt der Nächstenliebe. Es ist eine strategische Waffe. Es ist die gezielte Zerstörung von Informationskartellen, um die Bedingungen für Auftragstaktik zu schaffen und die Geschwindigkeit des gesamten Systems dramatisch zu erhöhen.
Diese fünf Kalibrierungen sind keine Checkliste. Sie sind eine Haltung. Ein operatives Protokoll, um von der Rolle des Kartographen, der die Welt zeichnet, wie sie sein sollte, in die des Pfadfinders zu wechseln, der das Terrain liest, wie es ist.
Ob dieser Weg unbequem ist? Ja. Die Frage ist, welchen Preis du zahlst: den der kurzfristigen Bequemlichkeit in der strategischen Desorientierung oder den der langfristigen Souveränität.