FN 56: Das Problem der Verteilung

Feldnotiz

Das überlegene Produkt muss gewinnen.

Dieser Satz ist kein moralischer Appell. Es ist die stille, oft unausgesprochene Grundannahme hinter unzähligen gescheiterten Projekten, frustrierten Karrieren und brillanten Ideen, die nie das Licht der Welt erblicken. Wir sind konditioniert, an eine Meritokratie der Qualität zu glauben. An eine Welt, in der sich das Bessere wie von selbst durchsetzt.

Doch die Realität operiert nach einem anderen, kälteren Gesetz: Ein gutes Produkt mit exzellenter Verteilung schlägt ein exzellentes Produkt mit mangelhafter Verteilung. Immer.

Das zu akzeptieren, fühlt sich für viele wie Verrat an. Verrat an der eigenen Kunst, am eigenen Handwerk, an der eigenen Integrität. Es ist aber kein Verrat, sondern das Erkennen der fundamentalen Physik unseres Systems. Wer versucht, ohne Verständnis für die Schwerkraft zu fliegen, wird nicht für ihre reinen Absichten belohnt. Sie scheitern.

Die meisten Kreativen, Gründer:innen und Denker:innen sind mit ihrem Werk verschmolzen. Die Kritik am Produkt ist Kritik an der Person. Der mangelnde Erfolg des Werks ist ein persönliches Scheitern. Solange du mit deinem Werk Subjekt bist, befindest du dich in einer strategischen Falle: Du versuchst, die Realität davon zu überzeugen, deine Regeln zu spielen.

Der entscheidende Schritt ist, die eigene Schöpfung zu einem Objekt zu machen. Einem Ding in der Welt, getrennt von dir. Dieses Ding hat Eigenschaften. Eine davon ist seine Qualität. Eine andere, ebenso wichtige, ist seine Fähigkeit, sich zu verteilen.

Indem du „Produkt“ und „Verteilung“ als zwei getrennte, lösbare Probleme betrachtest, entkoppelst du deinen Selbstwert vom Markterfolg. Du bist nicht mehr beleidigt, dass die Welt dich nicht versteht, und analysierst die Mechanismen, durch die die Welt überhaupt etwas versteht. Das ist der Wechsel von hoffenden Künstler:innen zu handelnden Akteur:innen.

Nennen wir es nicht Marketing. Dieser Begriff ist kontaminiert von Assoziationen mit Reklame und Markenaufbau. Nennen wir es bei seinem operativen Namen: Logistik der Ideen. Die Aufgabe ist, eine Information von Punkt A (dein Kopf) zu Punkt B (der Kopf einer Person, die damit etwas anfangen kann) zu transportieren, und zwar intakt.

Die Geschichte ist voll von Beweisen für dieses Gesetz. Coca-Cola gewann nicht, weil der Sirup so überlegen war, sondern weil Asa Candler das Kaltstartproblem der Verteilung löste: Er verschenkte Gutscheine und gab Händlern kostenlose Fässer. Er subventionierte die Logistik, bis das System sich selbst trug.

Albert Einstein ist nicht nur wegen seiner Gleichungen eine Ikone. Er war, wie das Time Magazine bemerkte, „eines Karikaturisten wahr gewordener Traum“. Er verstand das Spiel mit der Ikonographie, den Symbolen und den Medien. Seine Verteilungsstrategie für seine eigene Person war brillant. Wir erinnern uns an ihn mehr als an Bohr oder Feynman, nicht weil seine Physik notwendigerweise um Größenordnungen „besser“ war, sondern weil seine Verteilung überlegen war.

Der Impuls, das als unehrlich oder oberflächlich abzutun, ist verständlich. Es ist der Schutzreflex des Systems „Qualität muss sich durchsetzen“. Aber es ist eine Falle.

Doch sobald wir dieses Spiel der Verteilung akzeptieren und seine Regeln meistern, treten wir in seine Schattenseite ein. Eine Logik, die, wenn sie konsequent zu Ende gedacht wird, nicht nur Produkte, sondern auch den Diskurs selbst korrumpiert.

Die Kette ist kurz und brutal:

  1. Verteilung ist der entscheidende Hebel.
  2. Aufmerksamkeit ist die Währung der Verteilung.
  3. Die zuverlässigste Methode, um Aufmerksamkeit zu binden, ist nicht Resonanz, sondern Reibung. Provokation schlägt Faszination.

Das System optimiert nicht für Wahrheit, Wert oder Nuance. Es optimiert für virale Erregung. Empörung wird zu einem Performance-Indikator. Ein extremistischer Standpunkt ist nicht mehr nur eine Überzeugung, sondern ein „Hack“ für organische Reichweite. Die Logik des Systems fördert nicht den besten Gedanken, sondern den, der die meiste Energie freisetzt – und die billigste, am leichtesten verfügbare Energie in jedem sozialen System ist die Wut.

Das ist die hässliche Wahrheit hinter der eleganten Theorie: Wer die Verteilung um jeden Preis will, findet in der Polarisierung sein stärkstes Werkzeug. Die Botschaft wird zur Munition für den Algorithmus. Das Ziel ist nicht mehr Überzeugung, sondern Aktivierung. Die andere Seite zu besiegen, ist sekundär; die eigene zu mobilisieren, ist alles.

Hier wird die Logistik der Ideen zur Waffe. Der ursprünglich neutrale Mechanismus der Verteilung wird zu einem Motor für gesellschaftliche Erosion, weil die effizientesten Verteilungsstrategien auf Spaltung basieren.

Ein Produkt mit 3,4 von 5 Sternen durch überlegene Verteilung zum Erfolg zu führen, ist eine Sache. Eine Gesellschaft mit 1,0 von 5 Sternen zu schaffen, weil die Logik der Verteilung unsere Fähigkeit zum Konsens zerstört, eine andere.

Die Frage ist also nicht mehr, ob du das Spiel der Verteilung spielst – du bist bereits Teil davon. Die strategische Frage, die sich jede:r Akteur:in stellen muss, lautet:

Welche Dynamik fütterst du mit deiner Aufmerksamkeit? Und bist du bereit, die Verantwortung für die zweite und dritte Konsequenz dessen zu tragen, was du in die Welt verteilst?