FN 61-1: Die strategische Unwahrheit (Teil 1 von 5)

Feldnotiz

Das Dogma der Stunde heißt radikale Ehrlichkeit. Ein Ideal, das im operativen Terrain oft zur strategischen Selbstentwaffnung wird. Du legst alle Karten auf den Tisch und musst erkennen: Das Spiel findet woanders statt. Deine Transparenz wird als Naivität gedeutet, deine Offenheit als Schwäche genutzt.

Der Glitch, der daraus folgt, ist eine Falle. Er stellt eine falsche Wahl: Wirst du zu den wirkungslosen Idealist:innen, die an der reinen Lehre zerbrechen? Oder zu den Zyniker:innen, die die Lüge als Werkzeug der Macht akzeptieren und ihre Integrität verlieren?

Diese Dichotomie ist eine intellektuelle Kapitulation. Eine souveräne Operation fragt anders: Schützt meine Kommunikation das Ego oder schützt sie die Mission?

  1. Die manipulative Lüge schützt das Ego. Sie verschleiert die Realität, um eine Schwäche zu verbergen oder Verantwortung zu meiden. Ihr Ziel ist kurzsichtige Kontrolle. Sie zerstört Vertrauen.
  2. Die strategische Unwahrheit schützt die Mission. Sie schirmt eine verletzliche Wahrheit oder einen unfertigen Plan vor Kräften ab, die diese Information noch nicht verarbeiten können oder gegen sie verwenden würden. Ihr Ziel ist der Erhalt des Handlungsraums.

Stell dir ein destabilisierendes Gerücht im Team vor. Du hast nur Informationsfragmente.

  • Radikale Transparenz: Du teilst unfertige Bruchstücke und riskierst eine unkontrollierbare Panik. Ein Akt der Naivität, der die Handlungsfähigkeit des Teams untergräbt.
  • Die manipulative Lüge: Du dementierst alles, obwohl du den wahren Kern ahnst. Ein Akt der Feigheit, der Vertrauen erodiert.

Das strategische Manöver ist ein Drittes: „Ich nehme die Unsicherheit wahr. Ich werde jetzt keine unvollständigen Informationen freigeben, weil das der Mission schadet. Wir arbeiten daran, uns ein vollständiges Lagebild zu verschaffen. Sobald wir dieses haben, seid ihr die Ersten, die es erhalten.“

Diese Aussage ist auf der Informationsebene unvollständig. Auf der Intentionsebene ist sie radikal wahrhaftig.

Die strategische Unwahrheit nach außen ist oft der Preis für radikale Wahrhaftigkeit nach innen. Sie ist die Membran, die einen Hochvertrauensraum schützt, in dem komplexe Probleme sicher seziert werden können. Sie entspringt der souveränen Weigerung, die eigenen Prinzipien durch eine naive Anwendung in einem indifferenten oder feindseligen Umfeld entwerten zu lassen, und geht damit über die Frage des reinen Verrats an Prinzipien hinaus.

Die Frage nach der objektiven Wahrheit der Aussage wird der operativen Analyse untergeordnet: Welche Realität erschaffe ich mit meiner Kommunikation – und wessen Agenda dient sie?


Dieser Text ist die erste von fünf Feldnotizen zum Thema Strategische Unwahrheit.