FN 94: Die Strategie-Falle

Feldnotiz

Die Klausurtagung ist vorbei. Zwei Tage strategischer Dialog, Wände voller Frameworks, ein verabschiedetes Dokument.

Einige Wochen später ist die Energie verpufft. Die Absicht: im operativen Alltag verdampft. Das Dokument: ein digitales Grab. Das Ergebnis war kein strategischer Durchbruch. Es war ein Ritual der Beruhigung.

Die landläufige Diagnose ist ein Mangel an Disziplin, die vorgeschlagene Lösung oft eine neue Routine. Eine systemische Pathologie wird mit einer To-Do-Liste behandelt. Ein elegantes Pflaster für eine Schusswunde.

Der Grund für die verdampfende Absicht liegt tiefer. Dein ausgearbeiteter Plan ist eine Kette abhängiger Ereignisse. Jedes Glied dieser Kette unterliegt alltäglichen Schwankungen – den Statistical Fluctuations, wie Goldratt sie nennt. Ein Mitarbeiter wird krank, eine Zuliefererin liefert zu spät. Die negativen Schwankungen in der Kette addieren sich unweigerlich. Positive Schwankungen hingegen – eine Aufgabe, die schneller erledigt wird als geplant – verpuffen, weil das nächste Glied der Kette noch nicht bereit ist.

Dieser systemische Widerstand hat dabei einen menschlichen Komplizen: die mentalen Modelle und kognitiven Verzerrungen des Führungsteams. Die Pathologie liegt weniger im Organigramm als in der verborgenen Architektur des Denkens. Wie Richards J. Heuer Jr. in seiner Psychology of Intelligence Analysis aufzeigt, sehen wir die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie unsere Annahmen sie filtern.

Die operative Frage zielt darauf, wie das System denkt, nicht nur, wie es funktioniert.

Dein Strategie-Workshop wird zur Aufklärungsoperation. Sein Wert liegt in der Intelligence, die er über die Immunabwehr des Systems und die kognitiven Glitches seiner Operateure generiert.

  • Welche Annahme wird als unumstößliche Tatsache behandelt, obwohl sie nie validiert wurde?
  • Welche Daten werden selektiv herangezogen, um eine favorisierte These zu bestätigen, und welche werden ignoriert?
  • Wo entstehen spontane, inoffizielle Koalitionen, um eine Initiative zu blockieren, und welche unsichtbaren Loyalitäten schützen sie?
  • Welches entscheidende Thema wird von allen sorgfältig umschifft?

Die strategische Stille wird zur relevantesten Information – die Abwesenheit eines Signals, wo eines zu erwarten wäre. Das ist dein Lagebild. Das Unbehagen im Raum ist dein Datenstrom. Der Workshop wird zum Sensor, den du in das System hältst, um dessen eigentlichen Constraint zu identifizieren. Und er wird zum Labor, in dem du die erste paradoxe Intervention kalibrierst: eine Aufgabe, die das System zwingt, die Kosten seiner eigenen, verborgenen Logik selbst zu berechnen.

Einen Plan auf ein System loszulassen, dessen Denkmuster man nicht versteht, gleicht weniger einem strategischen Akt als einer Performance-Kunst mit fremdem Geld.