FN 98: Die Falle des Habitats
Feldnotiz
Der Plan war, Gewohnheiten zu installieren. Du hast stattdessen ein Habitat gebaut.
Die Personal- und Organisationsentwicklung operiert oft aus einer tiefen epistemologischen Erbsünde heraus. Ihre Werkzeuge – von Taylors Zerlegung der Arbeit über Skinners Konditionierung bis zu den linearen ADDIE-Prozessen des Militärs – basieren auf einer gemeinsamen Logik: Die Organisation ist eine Maschine, der Mensch ein berechenbarer Teil, und Lernen ist die Installation vorhersagbarer Routinen.
Das Resultat ist ein sorgfältig gepflegtes Habitat für Konformität. Ein System, das darauf ausgelegt ist, Abweichung zu reduzieren und bekannte Prozesse zu optimieren (Exploitation
). Die Folge ist ein enormer Energieverlust: In den meisten Organisationen hat fast jeder einen zweiten, unbezahlten Job – die eigenen Schwächen verbergen, den Eindruck bei anderen managen, politische Spiele spielen. Dieses Habitat war im 20. Jahrhundert überlebenswichtig. In einer komplexen Welt ist es eine Falle.
Diese permanent gebundene Energie fehlt für adaptives Handeln und Exploration
. Sie ist der stille Treiber für den Realitäts-Crash des alten Betriebssystems.
Komplexe Systeme funktionieren nicht wie Maschinen. Sie sind nicht-linear. Kleine Ursachen haben unvorhersehbare Wirkungen. Der Versuch, sie mit linearen Werkzeugen zu steuern, erzeugt nur mehr Reibung und unvorhergesehene Glitches
. Ein Glitch
ist das Symptom einer kollektiven Immunität gegenüber Veränderung: Das System schützt sich unbewusst vor der Veränderung, die es auf oberflächlicher Ebene zu implementieren versucht. Die optimierte Lernreise wird zur Sackgasse. Das Kompetenzmodell von gestern ist heute eine archäologische Karte.
Generative KI agiert hier nicht als neues Werkzeug, sondern als fundamentaler Zustandswechsel der Umgebung. Sie gießt Benzin auf das Feuer der Komplexität und macht das alte Betriebssystem endgültig obsolet.
Das operative Betriebssystem deiner Organisation ist ihr informelles Netzwerk. Hier fließen Informationen, hier entsteht Vertrauen, hier findet Anpassung statt. Die Aufgabe verlagert sich vom Habit Installer
zum Habitat Designer
. Das erfordert eine andere operative Logik:
- Dispositionale Gestaltung: Du formst die Rahmenbedingungen und Neigungen des Systems, um die Wahrscheinlichkeit für erwünschte Ergebnisse zu erhöhen, ohne ein festes Ergebnis vorhersagen zu wollen.
- Situiertes Lernen: Fähigkeiten entstehen im Kontext der Arbeit. Interventionen setzen direkt im Arbeitsfluss an, um relevant und wirksam zu sein.
- Portfolio-Manöver: Du initiierst ein Portfolio paralleler, risikoarmer Experimente (
Probes
). Was funktioniert, wird verstärkt. Was scheitert, wird als wertvoller Datensatz verbucht und beendet. - Kultivierte
Exaptation
: Du suchst und belohnst die zweckentfremdete Nutzung vorhandener Fähigkeiten für neue Probleme als intelligente Rekombination des Vorhandenen. - Dynamisches
Sensemaking
: Du erfasst die Mikro-Narrative aus dem System in Echtzeit, um zu verstehen, was wirklich passiert. Die entscheidende Fähigkeit ist kollektives Lagebildverständnis, nicht der Zugriff auf eine veraltete Datenbank.
Der Kernprozess ist ein evolutionärer Kreislauf, destilliert aus Boyds OODA-Loop: Probe → Sense → Respond
. Du stößt etwas an, beobachtest die Reaktion des Systems und passt dein nächstes Manöver an.
Das Ziel ist die Kultivierung einer Organisation, die die Kunst beherrscht, dauerhaft und produktiv unfertig zu bleiben. Das ist die Architektur, in der Agency
und Alignment
nicht als zentral verordnetes Programm entstehen, sondern als emergente Eigenschaft eines gesunden, adaptiven Systems.
Ein Hinweis: Diese Logik gilt für den Umgang mit Ungewissheit und die Schaffung von Neuem. Sie ersetzt nicht die Notwendigkeit für disziplinierte Ausführung in Bereichen, in denen der Lösungsweg bekannt und unveränderlich ist. Ein Compliance-Training oder ein Sicherheitsprotokoll im Flugzeugbau sind notwendige Exploitation
-Maschinen. Hier ist Emergenz keine Tugend, sondern ein Risiko.