FN 109: Parasitäre Resilienz

Feldnotiz

Wir operieren in einem kontaminierten Terrain. Die Realität wurde durch ein Simulacrum ersetzt – eine global skalierte, reibungslose Infrastruktur zur Herstellung und Beschleunigung mimetischen Verlangens. Es ist eine Maschine, die unendlich viele Statusspiele anbietet und die perfekte Simulation von Erfolg schneller und zuverlässiger honoriert als den anstrengenden, unsichtbaren Weg zur Meisterschaft.

In diesem Terrain hat sich Neofeudalismus bereits etabliert. Kapital, Daten und Aufmerksamkeit sind in den Händen weniger Akteur:innen konzentriert, die die Physik der Arenen definieren. Die ökonomische Notwendigkeit („Miete und Aldi“) ist hier kein trivialer Störfaktor, sondern der primäre Steuerungsmechanismus. Sie ist der Gradient, der das Verhalten der Masse formt und jede Abweichung diszipliniert.

Ein Appell an eine zugrunde liegende Realität durch bessere Argumente ist unter diesen Bedingungen ein Manöverfehler. Es ist der Versuch, einen Traum zu widerlegen, indem die Träumenden angestupst werden. Der Traum ist realer, emotional wirksamer und sozial einträglicher. Jede brillante Analyse seiner Pathologie wird vom Simulacrum selbst als weiterer Content assimiliert und neutralisiert.

Die binäre Falle, die dieses System stellt, lautet: Integrität wahren und ökonomisch verhungern, oder sich anpassen und die innere Kohärenz aufgeben. Der Operator wählt einen dritten Weg. Die Doktrin dafür ist die parasitäre Resilienz. Sie ist keine endgültige Lösung, sondern die notwendige, intermediäre Doktrin für die Gründungsphase einer Alternative.

Die Architektur des Manövers

Parasitäre Resilienz ist eine nachrichtendienstliche Operation in feindlichem Gebiet. Sie verzichtet auf die Reform des bestehenden Systems und zielt stattdessen darauf ab, unbemerkt die Ressourcen zu extrahieren, die für den Aufbau einer neuen, autarken Infrastruktur notwendig sind. Die Operation folgt drei direktiven Phasen.

Phase 1: die Zelle als verdeckte Operation

Du kannst das globale Simulacrum nicht zerstören. Du kannst aber eine lokale Kohärenz-Zelle erschaffen, die nach einer anderen, überlegenen Physik operiert. Dabei gilt Galls Gesetz: Ein komplexes System, das funktioniert, ist ausnahmslos aus einem einfachen System hervorgegangen, das funktioniert hat. Deine Zelle ist dieses einfache, funktionierende System.

Ihre Existenzberechtigung gegenüber dem Wirtssystem ist niemals ihre interne Logik von Agency und Alignment. Sie agiert unter einer Legende: der einer konventionellen High-Performance-Einheit. Ihre Existenzberechtigung wird ausschließlich in der Sprache formuliert, die das Wirtssystem versteht: überlegene, messbare Ergebnisse. Du bezahlst „Miete und Aldi“, indem deine Prinzipien einen unfairen Wettbewerbsvorteil produzieren, nicht indem du sie kompromittierst. Das Wissen um die wahre Mission der Zelle ist streng kompartimentiert.

Phase 2: das Artefakt als Waffe

Anstatt eines weiteren Thesenpapiers produziert die Zelle ein unbestreitbares Artefakt: ein Produkt, das funktioniert; ein Team, das liefert; eine Lösung für ein Problem, das im alten System als unlösbar galt. Das Artefakt ist der physische, verkörperte Beweis der Überlegenheit deiner internen Physik, den du in den Spiegelteich des Simulacrums wirfst. Deine Argumentation weicht der Demonstration. Du konfrontierst die Akteur:innen in der Simulation mit einem Ergebnis, das nach den Regeln ihrer Welt nicht hätte existieren dürfen. Das Manöver zielt auf die Erzeugung einer so starken kognitiven Dissonanz, dass die Aufrechterhaltung ihrer Immunity to Change energetisch teurer wird als die Konfrontation mit der neuen Realität.

Phase 3: die psychologische Härtung des Operators

Das Manöver erfordert eine operative Doppelrolle: die Fähigkeit, im Wirtssystem eine Funktion auszuüben und dessen Sprache perfekt zu sprechen, ohne sich mit dessen Logik zu identifizieren. Die operative Logik des Operators lautet: „Ich habe einen Job in diesem System, aber ich bin nicht dieses System.“ Diese psychologische Distanz ist die Firewall, die Burnout verhindert und die strategische Klarheit für das eigentliche, unendliche Spiel bewahrt. Sie ist die Bedingung für das Überleben des Operators während der parasitären Phase: taktische Mimikry.

Die Erfolgswahrscheinlichkeit und das emergente Ziel

Die Analyse der Erfolgswahrscheinlichkeit definiert das strategische Endziel des Manövers.

  • Für eine massenhafte Transformation des Wirtssystems ist die Wahrscheinlichkeit nahe null. Die Doktrin erfordert Akteur:innen, die fähig sind, das System von außen zu betrachten und post-zynisch mit ihm umzugehen.
  • Für die einzelne Zelle oder den einzelnen Operator ist die Wahrscheinlichkeit des Überlebens und des lokalen Erfolgs erstaunlich hoch. Gerade weil das Wirtssystem so ineffizient und blind für seine eigenen Glitches (und so verliebt in seine eigenen Prozesse) ist, bietet es unzählige Nischen für überlegene, parasitäre Lebensformen.
  • Für die Veränderung des Gesamtsystems liegt der Hebel in der Replikation.

Das emergente Ziel ist somit der Übergang von der parasitären zur konstruktiven Phase, denn die ewige Optimierung der eigenen, parasitären Existenz wäre eine zynische Kapitulation. Das Ziel ist der Aufbau eines Archipels.

Ein Archipel ist ein dezentrales Netzwerk aus resilienten, untereinander vernetzten Kohärenz-Zellen, die auf Basis einer geteilten, post-konventionellen Physik operieren. Anstatt das alte System durch das Lösen seiner Probleme zu stabilisieren, macht es dieses schrittweise irrelevant. Der Erfolg liegt in seiner Ersetzung durch ein überlegenes Modell.