FN 112: Die Physik des Sieges

Feldnotiz

Ein Plan versagt selten aufgrund seiner eigenen Schwäche. Er wird von der Physik des Systems neutralisiert, in dem er operieren soll. Diese neutrale Kraft ist die stille Reibung. Sie manifestiert sich nicht als lauter Widerstand, sondern als eine endlose Kette von Abstimmungsschleifen, als das unmerkliche Verschieben von Prioritäten, als das leise Ersticken von Initiative. Sie ist die systemische Pathologie, die den Antrieb eines hochmotivierten Agenten über Monate so lange erodiert, bis nur noch zynische Resignation die operative Norm ist.

Wir diagnostizieren in solchen Fällen meist ein Umsetzungsdefizit oder ein Kommunikationsproblem. Diese Diagnosen beschreiben Symptome. Die eigentliche Pathologie liegt tiefer, in der unsichtbaren Architektur des Systems selbst – seinem operativen Klima. John Boyd widmete sein Lebenswerk der Entschlüsselung dieser Physik. Sein erster entscheidender Beitrag, oft als Endziel seiner Lehre missverstanden, war die Identifikation der Bedingungen, die ein System zu einem Gewinner:innen-Ökosystem machen. Das Akronym dafür ist EBFAS.

EBFAS: die Architektur eines überlegenen Systems

EBFAS ist keine Checkliste von Tugenden. Es ist Boyds Destillat der physikalischen Gesetze eines überlegenen operativen Klimas, extrahiert aus der Blaupause der deutschen Manövertheorie. Jedes Element beschreibt einen beobachtbaren Zustand, dessen Abwesenheit spürbare systemische Kosten verursacht.

  • Einheit: Die Basis gegenseitigen Vertrauens und der Kohäsion, die implizite Kommunikation erst ermöglicht. In ihrer Abwesenheit entsteht eine Steuer: die unerbittliche Notwendigkeit zur expliziten Rechtfertigung und Absicherung. Energie, die nach außen gerichtet sein sollte, wird in internen Transaktionskosten verbrannt.
  • Behendigkeit: Die Fähigkeit eines Systems, etablierte, sogar erfolgreiche Denkmuster zu durchbrechen, wenn die Realität es erfordert. Ein System ohne Behendigkeit klammert sich an die Erfolgsrezepte der Vergangenheit und wird unfähig, auf fundamentale Veränderungen im Umfeld zu reagieren.
  • Fingerspitzengefühl: Ein intuitives Gespür für komplexe und chaotische Situationen, entstanden aus unermüdlicher Praxis unter vielfältigen Bedingungen. Ein System ohne Fingerspitzengefühl ist datenreich, aber informationsarm. Es sammelt Metriken, verfehlt aber die entscheidende Synthese, die aus Daten eine handlungsrelevante Einsicht macht.
  • Auftragstaktik: Ein Vertrag zwischen Führenden und Geführten. Die Absicht (das Was) wird geklärt, der Weg zur Erreichung (das Wie) der Initiative des Ausführenden überlassen. In einem System ohne Auftragstaktik entsteht der Flaschenhals zentralisierter Freigaben; Anpassungsfähigkeit stirbt in der Warteschleife.
  • Schwerpunkt: Der Punkt im Problemraum, der die größte Hebelwirkung verspricht und allen Bemühungen Fokus und Richtung gibt. Ohne klaren Schwerpunkt zerstreut sich die Energie der Organisation in einer Vielzahl gut gemeinter, aber unverbundener Aktivitäten.

Die unvollständige Landkarte

Für viele Analyst:innen, insbesondere die, die Boyds Werk auf die Unternehmenswelt übertragen, scheint die Lehre hier zu enden. Chet Richards, dessen Buch Certain to Win als Standardwerk gilt, konzentriert sich fast ausschließlich auf die Schaffung dieses EBFAS-Klimas. Die Entscheidung ist strategisch nachvollziehbar. Richards wusste, wie er in seinem späteren Aufsatz „All by Ourselves“ erklärte, dass selbst ein Teil des EBFAS-Frameworks – die Behendigkeit – für sein primäres Wirtschaftspublikum bereits eine hohe konzeptionelle Hürde darstellte. Er entschied sich für Klarheit und direkte Anwendbarkeit und präsentierte die greifbare, kulturorientierte Blaupause einer idealen Organisation.

Doch diese verständliche Vereinfachung lässt eine entscheidende Frage offen, die uns zum Kern von Boyds Denken führt: Was passiert, wenn dieser ideale Boden unfruchtbar ist? Was, wenn das Klima selbst nicht existiert und auch nicht von oben verordnet werden kann?

IOHAI: der generative Prozess

Die kombinierte Essenz aus Gödels Unvollständigkeitssatz, Heisenbergs Unschärferelation und dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ist eine fundamentale Warnung: Jedes System, das aufhört, sich mit seiner Umwelt auszutauschen, zerfällt unweigerlich.

EBFAS beschreibt ein ideales, offenes System. Es beschreibt aber nicht den motorischen Prozess, der diese Offenheit und Anpassungsfähigkeit aktiv erzeugt. Dieser Prozess ist IOHAI. IOHAI ist nicht das „Was“ einer idealen Kultur, sondern das operative „Wie“ einer lernenden Organisation. Es ist der Motor, der das EBFAS-Klima überhaupt erst hervorbringen und aufrechterhalten kann.

Boyd rang selbst mit diesem Konzept. Frühe Versionen seines „Theme for Vitality and Growth“, wie Frans Osinga in Science, Strategy and War aufzeigt, bestanden aus vier Elementen: Einsicht, Initiative, Anpassungsfähigkeit (Adaptability) und Harmonie. Nach 1989 ersetzte Boyd Adaptability durch das dynamischere Agility und fügte den Baustein Orientation hinzu. Dieser Akt der ständigen Verfeinerung zeigt, dass Boyd IOHAI nicht als statisches Dogma, sondern als lebendiges Framework verstand.

  • Insight (Einsicht): Der organisationale Prozess der Dekonstruktion und Neusynthese. Er manifestiert sich in der Fähigkeit, bestehende Produkte, Prozesse und Strategien in ihre Bestandteile zu zerlegen und sie zu etwas Neuem zu rekombinieren.
  • Orientation (Orientierung): Der kollektive Prozess der Neukalibrierung; die Geschwindigkeit der Organisation, neue Daten zu verarbeiten und die strategische Ausrichtung entsprechend anzupassen.
  • Harmony (Harmonie): Der Prozess der übergreifenden Synthese. Er zeigt sich in der Fähigkeit, technologische Durchbrüche, Kundenverhalten und Wettbewerbsverschiebungen zu einem einzigen, kohärenten Lagebild zu verbinden.
  • Agility (Agilität): Der organisationale Prozess der gezielten Selbstdestruktion; die Bereitschaft, ein profitables Geschäftsmodell proaktiv zu kannibalisieren, bevor es der Wettbewerb tut.
  • Initiative: Der dezentrale Prozess des Handelns unter Unsicherheit. Es ist die im System verankerte Erlaubnis für Teams, auf Basis lokaler Einsichten autonom zu handeln, ohne auf eine Anweisung der Zentrale zu warten.

IOHAI in der Praxis: Toyota

Die vielleicht vollständigste kommerzielle Implementierung von IOHAI ist das Toyota Production System (TPS). Oberflächlich eine Sammlung von Lean-Techniken, ist es in seiner Essenz ein System, das jeden IOHAI-Prozess institutionalisiert hat:

  • Insight: Das Prinzip des Genchi Genbutsu („Gehe und sieh selbst“) und die „Fünf Warums“ zwingen die Organisation, jedes Problem bis zu seiner Wurzel zu dekonstruieren. Das ist der institutionalisierte Prozess der permanenten Analyse und Neuzusammensetzung.
  • Orientation: Visuelle Kontrollsysteme wie Kanban und Andon schaffen einen ununterbrochenen Datenstrom über den Zustand des Systems. Jeder Mitarbeiter wird zum Sensor, der die Realität permanent mit dem Soll-Zustand abgleicht und bei Abweichung eine Neuausrichtung erzwingt.
  • Harmony: Das Just-in-Time-Prinzip ist die physische Manifestation von Harmonie. Es schafft einen nahtlosen, synchronisierten Fluss von Teilen, Informationen und Handlungen durch das gesamte System.
  • Agility: Schnelle Rüstzeiten (SMED) sind die Verkörperung von Agilität. Sie geben der Organisation die Fähigkeit, schnell zwischen Produktionsmodellen zu wechseln und sich an eine volatile Nachfrage anzupassen.
  • Initiative: Jeder Mitarbeiter am Band hat die Autorität, die gesamte Produktionslinie anzuhalten. Das ist die radikalste Form institutionalisierter Initiative. Das System vertraut dem einzelnen Akteur, dass seine lokale Einsicht wertvoll genug ist, das Gesamtsystem zu stoppen, um eine tiefere Pathologie zu verhindern.

EBFAS ist die sichtbare Konsequenz eines Systems, das nach den Prinzipien von IOHAI operiert. Das Vertrauen (Einheit) im TPS ist keine kulturelle Vorgabe, sondern das Ergebnis eines Systems, das jedem die Initiative gibt, die Qualität zu sichern. Das Fingerspitzengefühl der Ingenieure ist das Resultat eines unerbittlichen Insight-Prozesses.

Orientierung als generatives Prinzip

Boyds späte Ergänzung von Orientation zu seinem IOHAI-Framework war die Erkenntnis einer tieferen Wahrheit. Orientation ist nicht nur ein Schritt im Prozess, sondern das generative Prinzip des Prozesses selbst.

Insight, Harmony, Agility und Initiative sind Funktionen der aktuellen Orientation. Die Fähigkeit einer Organisation, etwas Neues zu sehen (Insight), hängt davon ab, durch welche Brille sie auf die Welt blickt. Ihre Fähigkeit, schnell zu handeln (Initiative und Agility), ist eine direkte Funktion davon, wie präzise sie ihr Lagebild aktualisiert.

Eine Organisation, die diesen Gedanken verinnerlicht, erreicht eine neue Ebene der Operation. Sie wendet den IOHAI-Prozess auf sich selbst an. Die eigene Orientation wird zum Gegenstand ihrer Beobachtung. Das ist der Übergang von einem System, das lernt, zu einem System, das lernt, wie es lernt. Der operative Fokus verschiebt sich von der Anwendung des Orientierungs-Prozesses auf die Optimierung des Prozesses selbst. Die Beherrschung der Kartografie wird zum strategischen Ziel, die Landkarte selbst nur zu ihrem temporären Artefakt.