FN 114: Der Verantwortungs-Glitch
Feldnotiz
In dem Moment, in dem ein System an die Grenzen seiner eigenen Logik stößt, sei es ein Unternehmen, das seine Ziele verfehlt, oder eine Gesellschaft, die mit ihren Widersprüchen ringt, taucht ein universelles Allheilmittel auf: der Appell an die „Eigenverantwortung“.
Dieser Appell ist selten eine Lüge. Er ist ein Glitch
im Betriebssystem. Ein Lösungsversuch erster Ordnung für ein Problem zweiter Ordnung. Er behandelt die Symptome eines kranken Systems, indem er den einzelnen Zellen eine höhere Dosis an Willenskraft verschreibt, während die systemische Pathologie selbst unangetastet bleibt. Das Ergebnis ist kein Fortschritt, sondern ein eleganterer Crash. Die Maschine läuft noch eine Weile weiter, angetrieben vom Ethos des individuellen Durchhaltens, bevor sie endgültig kollabiert.
Die Obsession mit individualisierter Eigenverantwortung ist die höchste Form der systemischen Verantwortungslosigkeit.
Die Physik des Glitches
Ein Problem zweiter Ordnung entsteht aus den Regeln und Wechselwirkungen, die Teile eines Systems verbinden. Jeder Versuch, es durch die Optimierung der Einzelteile zu lösen, verstärkt das Problem. Das ist die Essenz von Galls Gesetz: Komplexe Systeme neigen dazu, ihrer eigenen Funktion entgegenzuwirken.
Der Appell an die Eigenverantwortung ist ein solcher Versuch. Er verlagert den Fokus von der fehlerhaften Architektur des Systems auf die angebliche Willensschwäche des Individuums. Der Glitch
rahmt deinen Burnout als persönliches Versagen im Zeitmanagement und verschleiert die pathologische Arbeitsorganisation, die ihn hervorbringt. Er stellt deine finanzielle Unsicherheit als Folge deines Konsumverhaltens dar und lenkt von stagnierenden Löhnen bei steigenden Lebenshaltungskosten ab.
Das ist die brillante Effizienz des Glitches
: Er privatisiert systemisches Versagen. Das System muss sich nie selbst infrage stellen, solange es seine Dysfunktion erfolgreich an seine Mitglieder externalisieren kann.
Vom Symptom zum Sensor
Deine Frustration, deine Erschöpfung, dein Gefühl, gegen unsichtbare Mauern zu laufen – das sind keine persönlichen Defizite. Das sind Daten. Du bist kein fehlerhaftes Bauteil. Du bist ein hochsensibler Sensor, der präzise meldet, an welcher Stelle das System Risse aufweist.
Der erste Schritt zur Agency
ist ein radikaler Perspektivwechsel. Lies deine Erschöpfung als den Output eines fehlerhaften Systems. Du bist nicht mehr die Variable im Problem, du wirst ein:e Analytiker:in des Problems.
Diese Analyse hat ein operatives Ziel: die unsichtbaren Regeln des Spiels zu verstehen, in dem du dich befindest, und deine Züge neu zu kalibrieren.
Souveränität als operatives Ziel
Souveränität in diesem Kontext bedeutet präziseres Handeln, eine Neuausrichtung deiner Energie. Wenn das System dich für systemische Fehler zur Verantwortung ziehen will, hast du drei Manöver zur Auswahl:
- Reframing: Du nimmst den Ball auf und spielst ihn anders zurück. Wenn die Verantwortung für ein zum Scheitern verurteiltes Projekt auf dich abgewälzt wird, formulierst du die Annahme des Auftrags als ein „diagnostisches Manöver zur Aufdeckung systemischer Schwachstellen“. Deine Verantwortung zielt auf die präzise Analyse des Scheiterns.
- Muster-Exposition: Du machst die unsichtbaren Regeln sichtbar. Du eskalierst den
Glitch
kontrolliert, um seine Logik zu entlarven. Anstatt dich für das verpasste Ziel zu rechtfertigen, legst du die Daten vor, die beweisen, dass das Ziel mit den gegebenen Ressourcen und Prozessen mathematisch unerreichbar war. Du präsentierst die Physik des Systems. - Strategischer Rückzug: Du entziehst dem dysfunktionalen Muster deine Energie. Du legst den zweiten, unbezahlten Job nieder – das Kompensieren von Systemfehlern durch persönliche Opfer. Das ist die schwierigste, aber wirkungsvollste Operation. Das System wird lauter schreien. Das ist das Signal, dass du einen Nerv getroffen hast.
Hier liegt das zentrale Paradoxon der Agency
. Die einfache Reaktion auf den Glitch
ist die Deflektion – die Umkehrung der Anklage von „Ich bin schuld“ zu „Das System ist schuld“. Doch das ist eine Falle. Es ist die Antithese, die in der Passivität endet. Die Synthese, die wahrhaft souveräne Operation, ist die bewusste Übernahme einer Verantwortung zweiter Ordnung: Es ist deine Verantwortung, die Physik des Systems zu verstehen, deine Wahrnehmung zu kalibrieren und deine Manöver präzise zu wählen. Es ist die Verantwortung für den eigenen OODA-Loop im Angesicht des Chaos.
Der Verantwortungs-Glitch
verliert seine Macht über dich in dem Moment, wenn du aufhörst, ihn persönlich zu nehmen, und ihn als das nutzt, was er ist: eine präzise Karte zu den tiefsten Pathologien deines Systems.
Die zweite Operation: Alignment
Diese individuelle Souveränität ist die Voraussetzung, nicht das Endziel. Die stärkste Waffe des Glitches
ist die Isolation. Er zwingt uns in einen Wettkampf gegeneinander, in dem wir das Leiden der anderen als Maßstab für unsere eigene Belastbarkeit missbrauchen.
Darauf folgt die zweite, entscheidende Operation: Finde die anderen Sensoren. Finde jene, die ebenfalls angefangen haben, die Signale des Systems zu lesen, anstatt sich von ihnen verzehren zu lassen. Der Zusammenschluss solcher Akteur:innen bildet eine Ingroup
, eine Zelle von Verbündeten, die sich der gleichen Realitätskalibrierung verpflichtet fühlt.
Diese Gruppe verweigert sich nicht. Sie schafft eine Insel der Kohärenz inmitten des dysfunktionalen Rauschens. Sie agiert als eine Einheit, die in der Lage ist, die Physik des Systems nicht nur zu lesen, sondern aktiv zu gestalten.
Die souveräne Navigation des Einzelnen schafft die Voraussetzung für die kraftvolle, gemeinsame Ausrichtung. Das ist Alignment
. Das ist die nächste Operation.