„Erwachsenwerden“ bedeutet, den Übergang zu späteren Entwicklungsstufen zu vollziehen: Ein unabhängiges Selbstverständnis zu entwickeln, sich die Eigenschaften, die allgemein mit sozialer Reife und Weisheit verbundenen sind, anzueignen, und uns unserer selbst bewusster zu werden und unser Verhalten besser kontrollieren zu können. Dabei werden wir uns des sozialen Geflechtes, das uns beeinflusst, zunehmend klarer und können es besser steuern.
Um diese Entwicklung über den Ansatz von Jean Piaget hinaus zu beschreiben, hat Robert Kegan die dem diesen Text namengebende Theorie „Die Entwicklungsstufen des Selbst“ entwickelt.1
Dieser Theorie nach durchlaufen Menschen sechs Entwicklungsstufen.2 Jede dieser Stufen, angefangen bei Stufe 0, führt zu einem differenzierteren und genaueren Verständnis von uns selbst und anderen, was wiederum eine differenziertere und genauere Ethik ermöglicht.
Allerdings werden die meisten Menschen nie zu „wohlfunktionierenden Erwachsenen“ – sie kommen nicht über Stufe 3 dieser Theorie hinaus. Ihnen fehlt ein unabhängiges Selbstverständnis, weil vieles von dem, was sie denken, glauben und fühlen, davon abhängt, wie sie glauben, dass andere sie erleben.
Eine Vorstellung der Theorie.
Übersicht
Vorab wichtig zu verstehen
Es ist wichtig, drei Schlüsselkonzepte zu verstehen:
Veränderung
Kegan geht es beim „Erwachsenwerden“ nicht darum, neue Dinge zu lernen, sondern darum, die Art und Weise, wie wir die Welt sehen und verstehen, zu verändern.
Veränderung ist damit eine Art persönliche kopernikanischen Wende, die uns ständig passieren kann. Wie, wenn wir nach Jahren ein Buch erneut lesen und sich unsere Erfahrung und unsere Wahrnehmung davon grundlegend geändert hat.
Nur durch Veränderung können wir spätere Entwicklungsstufen erreichen, was auch der Grund ist, warum persönliche Schicksale ein Katalysator für Wachstum sein können.
Subjekt-Objekt-Wechsel
Der Übergang zu späteren Stufen erfordert Wechsel vom Subjekt zum Objekt – von dem, „was ich bin“ (Subjekt), zu dem, „was ich habe“ (Objekt), also einen Subjekt-Objekt-Wechsel.
- Subjekte („Ich bin“): Wir binden uns an Selbstkonzepte, die wir daher nicht reflektieren oder objektiv betrachten können. Dazu gehören Annahmen darüber, wie die Welt funktioniert, Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensweisen, Emotionen und so weiter.
- Objekte („Ich habe“): Wir trennen uns von unseren Vorstellungen von uns selbst.
Ein Beispiel wäre, wie Menschen einen Subjekt-Objekt-Wechsel in Bezug auf Religion erleben. Wenn sie jung sind, ist ihre Religion „subjektiv“. Sie haben nicht die Fähigkeit, diese Überzeugungen zu analysieren und zu hinterfragen. Wenn sie älter sind, wird die Religion „objektiv“; sie haben Überzeugungen, die zurücktreten können: Sie können darüber nachdenken und entscheiden, woran sie glauben.3
Veränderung und der Subjekt-Objekt-Wechsel sind entscheidend für die Entwicklung von Erwachsenen.
Stufen: Subjekt/Objekt-Gleichgewichtszustände
Eine Stufe ist eine Fähigkeit oder Kompetenz: die Fähigkeit, sich in einem bestimmten Selbst auf eine Bedeutung zu beziehen. Wenn wir uns auf einer späteren Stufe befinden, sind wir auch in der Lage, in einer der früheren Stufen zu arbeiten – allerdings nicht umgekehrt.
Die Übergänge zwischen den Stufen passieren schrittweise und dauern viele Jahre. Während eines Übergangs sind wir gelegentlich in der Lage, in einem später entwickelten Selbst zu arbeiten.
Jeder Übergang zwischen den Stufen ordnet die Beziehung zwischen dem eigenen Selbst und den anderen neu. Er relativiert das, was vorher „Subjekt“ war – die Natur des innersten Selbst – und verwandelt es in geistige Objekte. In der neuen Phase entsteht eine neue Art von Subjekt, eine neue Form des innersten Selbst. Das neue Subjekt organisiert und handelt mit und durch geistige Objekte, die vorher „Subjekt“ waren.4
Die meisten Erwachsenen in der westlichen Welt5 erreichen Stufe 3 – das zwischenmenschliche Selbst – während ihrer Jugend. Um den Anforderungen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, müssen sie jedoch Stufe 4 – das institutionelle Selbst – erreichen. Allerdings ist es schwierig, Stufe 4 zu erreichen, und nur ein Bruchteil der Menschen der westlichen Welt ist dazu in der Lage, was, so Kegan, allerdings von entscheidender Bedeutung für unsere Gesellschaft ist.6
Die Stufen der Erwachsenenentwicklung
Hinweis: Da sich die Stufen 0 und 1 explizit auf die Entwicklung von Kindern beziehen, lasse ich sie an dieser Stelle außen vor.
Stufe 2: Souveränes Selbst
Hier ist das Subjekt (Ich) eine Ansammlung von kurzfristigen praktischen Interessen. Wir erkennen an, dass andere Menschen ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen und Absichten haben, die wir berücksichtigen müssen.
Ethik in diesem Selbst ist instrumentell: Sie zielt darauf ab, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, während wir mit oder um die Bedürfnisse anderer Menschen herumarbeiten.
Beziehungen sind Austauschverhältnisse. Menschen auf Stufe 2 sehen Menschen als Mittel, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, im Gegensatz zu einer gemeinsamen inneren Erfahrung – wie wir füreinander empfinden.
Es ist ihnen wichtig, wie sie von anderen wahrgenommen werden, allerdings nur, weil diese Wahrnehmungen konkrete Folgen für sie haben können. Wenn etwa Freund:innen auf Stufe 2 einander nicht anlügen, dann aus Angst vor den Konsequenzen oder Vergeltung und nicht, weil sie Ehrlichkeit und Transparenz in einer Beziehung schätzen.
Menschen folgen außerdem aufgrund äußerer Belohnungen oder Bestrafungen Regeln, Philosophien, Bewegungen oder Ideologien, und nicht, weil sie wirklich an sie glauben. Wenn sie andere Menschen nicht übervorteilen, dann, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben, und nicht, weil es gegen ihre persönlichen Werte verstößt.
Die meisten, allerdings nicht alle Menschen in der westlichen Welt7 vollziehen den Übergang von Stufe 2 auf Stufe 3 während der Pubertät.
Stufe 3: Zwischenmenschliches Selbst
Auf Stufe 3 stehen die Normen, Überzeugungen und Vorstellungen der Gemeinschaft – der Menschen und Systeme um uns herum – im Vordergrund:
Persönliche Interessen werden relativiert. Sie werden vom Subjekt zum Objekt. Wir sind nicht länger eine Ansammlung von Interessen, sondern wir haben Interessen. Sie sind Beziehungen untergeordnet und werden von ihnen organisiert. Wir sind in Beziehungen und werden stillschweigend durch sie definiert.
Auf Stufe 3 haben wir ein genaueres, komplexeres Verständnis der Grenze zwischen dem Selbst und anderen. Auf Stufe 2 sind andere Menschen nur dann von Bedeutung, wenn sie einen direkten Einfluss auf die eigenen Interessen haben; auf Stufe 3 beginnen wir zum ersten Mal, uns selbst als eine Funktion dessen zu erleben, wie andere uns erleben.
Erkenntnistheoretisch gesehen entwickelt das zwischenmenschliche Selbst die Fähigkeit, sich in Andere hineinzuversetzen, was im souveränen Selbst kognitiv unmöglich ist. Auf Stufe 3 sind wir auch sehr sensibel dafür, „was andere von uns denken“, was auf Stufe 2 meist nicht der Fall ist. Wir nehmen etwa eine externe Sichtweise auf uns selbst („Sie werden denken, dass ich ein Vollpfosten sei“) und machen sie zu einem Teil unserer internen Erfahrung („Ich bin ein Vollpfosten“).
Von Stufe 2 auf Stufe 3 kommt es zu einem Übergang von übermäßiger Trennung zu übermäßiger Einbettung. Denn hier tendieren wir dazu, das, was eigentlich das Selbst ist, und das, was eigentlich das Andere ist, zu einer einheitlichen Erfahrung zu vermischen. Wir übernehmen die Emotionen, Werte, Interessen und situativen Erfahrungen anderer Menschen, ohne sie eindeutig als die von Anderen zu identifizieren. Diese Mischung wird zum Subjekt, also zum nicht-thematisierten innersten Selbst.
Die prototypische Beziehung ist die „Schulfreundschaft“. Die Entwicklung intensiver Freundschaften unter Gleichaltrigen ist typischerweise der Stein des Anstoßes für den Übergang zum zwischenmenschlichen Selbst. Beziehungen sind in der Regel symmetrisch: zwischen Gleichgestellten und auf Gegenseitigkeit beruhend. Jeder unterstützt die anderen in gleicher Weise, die einfachste Form einer dauerhaften Beziehung. Da Beziehungen keine Struktur haben, gibt es auch keine definierten Grenzen: Wir sind potenziell unendlich verantwortlich für jeden, mit denen wir in Beziehung stehen.
Diese Gemeinschaftsethik strebt nach Harmonie innerhalb einer homogenen sozialen Gruppe. Sie wird aufrechterhalten, indem wir die Bedürfnisse der anderen empathisch beobachten und unsere Absichten auf sie abstimmen.
Gleichheit bedeutet in diesem Kontext, dass die Bedürfnisse aller Menschen gehört werden müssen. Im Gegensatz zu Stufe 2 bedeutet das allerdings nicht unbedingt einen gleichwertigen Austausch, denn manche Menschen benötigen mehr als andere.
Die Entscheidungsfindung erfolgt idealerweise im Konsens, nachdem alle ihre Gefühle mitgeteilt haben. Außerdem sollten Tabus und Gepflogenheiten der Gemeinschaft beachtet werden, auch wenn sie ungerechtfertigt und sinnlos sind. Sie zu verletzen, verärgert Menschen im zwischenmenschlichen Selbst. Das, was andere Mitglieder von uns erwarten, zu erfüllen, ist definitionsgemäß gut – denn „wer ich bin“ ist „wie die Leute über mich denken“. Die Goldene Regel ist eine Zusammenfassung der Gemeinschaftsethik und perfekt symmetrisch.
Diese Gemeinschaftsethik erkennt nur asymmetrische Beziehungen an, die biologisch notwendig sind, wie Familien und heterosexuelle Paarbeziehungen. Ihr Imperativ besteht darin, unseren Rollen auf traditionelle Weise nachzukommen, wie Eltern, Ehepartner:in oder „artiges“ Kind zu sein. Hauptsächlich besteht die der Rolle darin, die richtigen Gefühle zu haben. In der gesamten Gemeinschaftsethik dominieren deshalb die Gefühle alle anderen Überlegungen. Romantische Beziehungen tendieren zur Verschmelzung, wodurch jegliche emotionale Trennung oder Differenzen der Werte beseitigt wird.
Asymmetrische Beziehungen, eben mit Ausnahme biologisch notwendiger, werden im zwischenmenschlichen Selbst abgelehnt, da eine Seite die Erfahrungen der anderen nicht respektiert – das kann nur durch Eigennutz der Stufe 2 motiviert sein.
Auf Stufe 3 haben wir die Einschränkung, dass wir Konflikte zwischen Verantwortlichkeiten in verschiedenen Beziehungen nicht lösen können. Wenn eine Person möchte, dass wir etwas tun, und eine andere Person möchte, dass wir etwas anderes tun, gibt es keine gute Grundlage für eine Entscheidung, denn Beziehungen haben keine innere Struktur; sie bestehen lediglich aus dem Austausch von Erfahrungen.
Das ist die Erfahrung auf Stufe 3, wenn wir mit unvereinbaren Erwartungen nicht zurechtkommen: Das unmögliche Gefühl, an mehreren Orten gleichzeitig sein zu müssen, das Gefühl, auseinandergerissen oder in verschiedene Richtungen gezogen zu werden, das Gefühl, alle, die wir lieben, glücklich machen zu wollen, oder sogar das Gefühl, dass wir sie alle glücklich machen könnten – wenn sie nur kooperieren würden.
In der Praxis wählen wir danach aus, wessen Gefühle wir in dem Moment, in dem wir uns entscheiden müssen, am stärksten empfinden. Das sind oft diejenigen, die gerade da sind, oder diejenigen, die ihre intensiven Gefühle am besten zeigen können. Soziale Gruppen, die sich im zwischenmenschlichen Selbst befinden, werden oft von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen dominiert, die sich durch ihr theatralisches Auftreten durchsetzen.
Menschen auf Stufe 3 wirken auf Menschen in Stufe 4 unverantwortlich und unzuverlässig. Sie tun häufig nicht, was sie vereinbart haben, weil „etwas dazwischen gekommen ist“. Aus zwischenmenschlicher Sicht war das verantwortungsvoll: Sie kümmerten sich um die Sache, die dazwischenkam, nämlich dass jemand aus einem anderen Teil ihres Lebens etwas anderes wollte.
Auf Stufe 4 könnten wir sagen: „Ja, allerdings war das nicht dein Problem, und es ist einfach aufgetaucht, obwohl du vorher zugestimmt hast, das zu tun, was ich wollte.“ Auf Stufe 3 klingt das wie Egoismus der Stufe 2: Wir stellen unsere Wünsche über die der anderen Person. Im zwischenmenschlichen Selbst können wir nicht verstehen, dass es strukturelle Gründe und nicht nur Gefühle dafür geben kann, einer Verantwortung den Vorzug vor einer anderen zu geben.
„Das ist nicht mein Problem“ kann eine Aussage auf Stufe 2 oder auf Stufe 4 sein; es ist keine Aussage auf Stufe 3. Auf Stufe 3 können wir es nicht vermeiden, uns mit allem zu befassen, was „auftaucht“, wie mit den vergänglichen Gefühlen der Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen. Wir versuchen also, für alles verantwortlich zu sein.
Doch wenn wir für alles verantwortlich sind, können wir eigentlich für nichts verantwortlich sein. Wir können nicht für eine bestimmte Verantwortung zur Rechenschaft gezogen werden.
Das zwischenmenschliche Selbst ist charakteristisch für vormoderne („traditionelle“) Kulturen. Es ist unmöglich, große Gesellschaften auf dem zwischenmenschlichen Selbst aufzubauen, weil er bei der Koordinierung komplexer Gruppenaktivitäten so ineffektiv ist: Wenn die Einzelnen häufig ihre spezifischen, vereinbarten Aufgaben nicht erfüllen, kann schließlich nichts erreicht werden. Moderne Gesellschaften beruhen daher auf dem institutionellen Selbst der Stufe 4.
Für Heranwachsende in modernen Gesellschaften ist es entwicklungsmäßig passend, auf Stufe 3 zu sein. Diese Stufe ist allerdings nicht geeignet, um die Anforderungen an Erwachsene in ihnen zu erfüllen. Erwachsene auf Stufe 3 sind traditionelle Menschen, die in einer modernen Welt leben – und das verursacht Reibungen.
Da alle Erwachsenen in der westlichen Welt mit Systemen auf Stufe 4 zu tun haben, vorwiegend im Berufsleben, entwickelt jeder Bewältigungsstrategien und jeder hat ein gewisses intellektuelles Verständnis dafür, wie sie funktionieren. Im zwischenmenschlichen Selbst jedoch erscheint die systematische Logik fremd und emotional inakzeptabel.
Das kann zum Bilden von Ideologien führen, wie in etwa Antikapitalismus oft eine Ablehnung der asymmetrischen Arbeitsverhältnisse auf Stufe 3 ist. Er kann allerdings auch durch ein systemisches Verständnis der Stufe 4 motiviert sein.
- Auf Stufe 2 erscheinen wir pünktlich zur Arbeit, weil wir sonst gefeuert werden könnten und uns einen neuen Job suchen müssten, was mühsam wäre und uns in der Zwischenzeit Lohneinbußen bescheren würde. Wenn wir auftauchen, werden wir vielleicht eines Tages befördert und bekommen mehr Geld.
- Auf Stufe 3 erscheinen wir pünktlich zur Arbeit, weil unsere Kolleg:innen verärgert wären, wenn wir zu spät kämen, oder weil unser:e Partner:innen verärgert wären, wenn wir gefeuert würden, oder weil wir eine Gehaltserhöhung verpassen könnten, die unseren Kindern eine bessere Lebensqualität ermöglichen würde.
- Auf Stufe 4 kommen wir pünktlich zur Arbeit, weil das unser Job ist.
Für viele Menschen endet die Entwicklung auf Stufe 3.
Stufe 4: Institutionelles Selbst
Auf Stufe 4 können wir definieren, wer wir sind, und werden nicht durch andere Menschen, unsere Beziehungen oder die Umwelt definiert: Beziehungen werden relativiert.
Sie werden vom Subjekt zum Objekt, sie werden einem System untergeordnet und von diesem organisiert. Wir sind nicht mehr in Beziehungen, die uns definieren, sondern wir haben Beziehungen. Wir sind nicht länger ein Strom flüchtiger emotionaler Erfahrungen, sondern wir haben Erfahrungen.
Wir sind ein System, das uns definiert. Hier ist das Selbst eine Struktur aus dauerhaften Prinzipien, Projekten und Verpflichtungen. Wir sind „selbstbestimmt“: Wir wählen unsere eigenen Grundsätze, Projekte und Verpflichtungen.
Wir verstehen, dass wir eine Person sind, mit Gedanken, Gefühlen und Überzeugungen, die unabhängig von den Normen und Erwartungen unserer Umwelt sind. Wir können jetzt die Meinung anderer von unserer eigenen Meinung unterscheiden, um unseren eigenen „Richterstuhl“ zu formulieren. Wir verzehren uns danach, wer wir sind – das ist die Art von Mensch, die ich bin, das ist es, wofür ich stehe.
Andere werden so verstanden, dass sie ihre eigenen Prinzipien, Projekte und Verpflichtungen gewählt haben. Sie haben Erfahrungen gemacht, die nicht unsere Erfahrungen sind. Das bedeutet nicht, dass wir die Erfahrungen anderer nicht wahrnehmen oder ignorieren, wie auf Stufe 2. Es bedeutet, dass wir nicht von ihnen überflutet werden und abschätzen können, ob wir auf sie reagieren sollten oder nicht und wie wir das am besten tun.
Systematische Menschen gehen Beziehungen hauptsächlich auf der Grundlage ihrer Prinzipien, Projekte und Verpflichtungen ein und nicht auf der Grundlage ihrer Gefühle. Für Menschen auf Stufe 3 klingt das kalt und distanziert, allerdings bedeutet es auf Stufe 4, die andere Person so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Gefühle sind einfach etwas, das Menschen gelegentlich haben. Mit ihnen müssen wir umgehen, nur sollten wir sie nicht zu ernst nehmen. Sich auf die Prinzipien, Projekte und Verpflichtungen von anderen Personen einzulassen, bedeutet, das zu unterstützen, was ihnen auf lange Sicht am wichtigsten ist. Romantische Beziehungen zwischen systematischen Menschen tolerieren nicht nur, sondern respektieren und unterstützen aktiv ihre unterschiedlichen Werte und Projekte.
Gesellschaftsgruppen werden auf Stufe 4 ebenfalls als Systeme begriffen; wir nehmen Perspektiven eines ganzen Systems von differenzierten, ineinandergreifenden Rollen ein, die in asymmetrischen, strukturierten Beziehungen zueinander stehen, statt wie auf Stufe 3 nur die Perspektive von anderen Menschen oder einer homogenen Gruppe.
Das ist eine epistemische Fähigkeit mit einem Mindestmaß an Kompetenz im abstrakten Denken, denn ein System auf Stufe 4 ist zumindest in dem Sinne rational, dass es für jede Rolle und jede Beziehung einen Grund gibt – die Gründe bilden zusammen eine ineinandergreifende Struktur der Rechtfertigung. „Darum“, eine asymmetrische Beziehung zwischen Ideen, ist der erkenntnistheoretische Schlüssel zu Stufe 4.
Weil es Gründe für Beziehungen gibt, weil sie auf bestimmten Verpflichtungen gegenüber bestimmten Rollen beruhen, weil sie uns in bestimmten Situationen bestimmte Verantwortlichkeiten übertragen, können wir Konflikte zwischen ihnen in der Regel auf eine prinzipielle Weise lösen.
Kegan gibt ein Beispiel: In ein paar Monaten planen wir eine Woche Urlaub mit unsere:r Ehepartner:in als „zweite Flitterwochen“ und organisieren eine Kinderbetreuung, damit nur wir beide unsere romantische Beziehung erneuern können. Wir besuchen unsere Eltern allein zum Abendessen und sie sind enttäuscht, dass wir uns seit der Geburt unserer Kinder so wenig sehen. „Und wir würden unsere Enkelkinder auch gerne öfter sehen!“
Es gibt eine perfekte Lösung für das zwischenmenschliche Selbst: Wir laden unsere Eltern sofort in den Urlaub ein und sagen, dass wir die Kinder mitbringen, und dann sind alle zufrieden. Unser:e Ehepartner:in wird vielleicht etwas enttäuscht sein, allerdings wissen wir, dass auch sie unsere Eltern lieben und gerne Zeit mit ihnen verbringen. Es wäre egoistisch, wenn sie nicht auf die Bedürfnisse unserer Eltern eingehen würden, und wir wissen, dass unser:e Ehepartner:in gute und großzügige Mensch sind.
Im institutionellen Selbst ist das allerdings die falsche Antwort. Wir sind unseren Eltern und unseren Partner:innen gegenüber auf unterschiedliche Weise verantwortlich, sodass wir in verschiedenen Situationen der einen oder der anderen Beziehung den Vorrang geben müssen. Hier ist die besondere Situation die Erneuerung der Paarbeziehung, die andere Bedürfnisse hat als andere Beziehungen.
Ein Besuch bei unseren Eltern kann Ehepartner:innen und die Kinder einbeziehen; manchmal kann ein Urlaub mit den Ehepartner:innen aufgrund der besonderen Natur der romantischen Paarbeziehung niemanden sonst einbeziehen. Ein zusätzlicher struktureller Grund ist, dass wir eine (frühere) Verpflichtung gegenüber unseren Ehepartner:innen eingegangen sind, die normalerweise Vorrang vor allem Neuen haben sollte. Das gibt uns zumindest die strukturelle Verantwortung, mit unseren Ehepartner:innen die Möglichkeit zu besprechen, unsere Eltern einzuladen, bevor wir das tun.
Auf Stufe 4 haben wir die Fähigkeit, die Perspektive eines sozialen Systems als Ganzes einzunehmen und sein reibungsloses Funktionieren zu unterstützen. In diesem Fall handelt es sich um ein Mehrgenerationen-Familiensystem mit ausgeprägten Teilsystemen – wie das Ehepaar –, die unabhängig von jedem Einzelnen besondere Bedürfnisse haben. Es kann auch ein Arbeitsplatz, eine religiöse Organisation oder ein ganzes Land sein.
Auf Stufe 3 stellen komplexe soziale Systeme scheinbar willkürliche Anforderungen von außen, die vermutlich von den Mächtigen zu ihrem eigenen Vorteil entwickelt wurden. Ohne eine systemische Sichtweise nehmen die Menschen in der Gemeinschaft alle Güter des modernen Lebens als selbstverständlich hin, da sie von außen geliefert werden. Erst auf Stufe 4 können wir verstehen, dass jedes Leben jenseits der Selbstversorgung von komplizierten sozialen Systemen mit komplexen Rollen und Verantwortlichkeiten abhängt.
Im zwischenmenschlichen Selbst können wir für die Anforderungen einer Rolle verantwortlich sein, nur können wir nicht für unsere Rollen verantwortlich sein. Auf Stufe 3 sind wir in Rollen, auf Stufe 4 haben wir allerdings Rollen, die wir zueinander in Beziehung setzen können. Wir können nicht nur Prioritäten setzen, sondern wir erkennen auch, dass unsere Verantwortung für eine bestimmte Rolle bestimmte Grenzen hat, und wir können Rollen freiwillig betreten und verlassen. Systeme respektieren Grenzen und Unterscheidungen.
Auf Stufe 4 geht es darum, formale Verantwortlichkeiten zu erfüllen, also solche, die erfunden wurden, damit das System funktioniert, und nicht solche, die biologisch angeboren sind. Das ist „Professionalität“, also das Verständnis, dass die systemische Rollenbeziehung zwischen zwei Menschen von der persönlichen Beziehung zwischen ihnen getrennt ist, auch wenn es immer ebenfalls eine persönliche Beziehung gibt, und dass die Rollenbeziehung in den meisten Fällen Vorrang hat.
Im institutionellen Selbst bedeutet Gleichstellung Verfahrensgerechtigkeit, die auf der Achtung der Würde des Einzelnen beruht. Gleichstellung bedeutet nicht, dass die Gefühle aller berücksichtigt werden, so wie im zwischenmenschlichen Selbst, sondern, dass das System die Menschen auf der Grundlage von Rechten, Pflichten, Prinzipien und Verfahren unparteiisch behandelt, und dass Gefühle und persönliche Beziehungen bei Entscheidungen über Einzelpersonen bewusst ausgeklammert werden. Das schützt die weniger Mächtigen vor den Launen der Mächtigen und vor Vetternwirtschaft.
Ethik auf Stufe 4 beinhaltet, dass wir unseren Beitrag zu Institutionen leisten, indem wir unsere spezifischen, definierten, systemischen Pflichten erfüllen. Auf Stufe 4 übernehmen wir allerdings nicht nur Verantwortung für unsere persönliche Rolle oder für die Bedürfnisse der Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, sondern für die gesamte soziale Struktur.
Das institutionelle Selbst zu beherrschen bedeutet nicht nur, kongruent in einem System zu arbeiten, sondern auch die Fähigkeit zu haben, Systeme zu erschaffen oder mitzugestalten, was noch über Stufe 4 hinaus in Richtung Stufe 5 geht. Dazu gehört auch die Fähigkeit, freiwillig in Rollen, und nicht nur in Beziehungen, ein- und auszusteigen und für uns selbst und andere Rollen zu schaffen, die den Bedürfnissen des Systems entsprechen. Dieses Selbst erkennt an, dass Macht, Autorität und Kontrolle oft einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten und nicht immer nur egoistisch sind. Effektive institutionelle Führung ist eine Möglichkeit, diese Stufe zu meistern.
Systematische Ethik geht davon aus, dass wir es gut mit anderen meinen, was auch Kern der Gemeinschaftsethik ist. Die zentrale Frage ist allerdings vielmehr, wie Konflikte zwischen guten Absichten gelöst werden können. Eine systematische Ethik empfiehlt, das auf der Grundlage einer Reihe von dauerhaften Prinzipien zu tun, die im Sinne einer schlüssigen und widerspruchsfreien Ideologie oder Rechtfertigungsstruktur rational sind: Jede schlüssige und widerspruchsfreie Struktur zählt als Stufe 4 – Systematizität ist ein Kriterium für die Form der Ethik, nicht für ihren Inhalt.
Wir entwickeln einen inneren Orientierungssinn und die Fähigkeit, unseren eigenen Weg zu finden und zu gehen.
Stufe 4 ist die Definition der Moderne im Sinne der europäischen Kultur und Gesellschaft der ungefähr letzten 250 Jahre. In modernen und postmodernen Gesellschaften hat also fast jeder zumindest ein vages, konzeptionelles Verständnis von Systemen. Nur kann nicht jeder auf diese Weise leben.
Empirische Studien aus den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren zeigten in groben Zahlen:
- Ein Drittel der amerikanischen Erwachsenen befand sich auf Stufe 3; einige wenige auf Stufe 2 oder im Übergang von 2 auf 3.
- Ein weiteres Drittel befand sich im Übergang von Stufe 3 auf Stufe 4; es war in der Lage, in einigen, allerdings nicht in allen Situationen systematisch zu funktionieren.
- Knapp ein Drittel funktionierte durchgehend auf Stufe 4.
- Etwa 5 % hatte sich über Stufe 4 hinaus entwickelt.
Wahrscheinlich sind diese Verhältnisse heute aufgrund der Beschleunigung der Postmoderne anders. Die postmoderne Systemkritik hat den Übergang auf Stufe 4 erschwert, während sie den Übergang auf Stufe 5 erleichtert hat.
Stufe 5: Überindividuelles Selbst
Auf Stufe 5 ist das Selbstbewusstsein nicht an bestimmte Identitäten oder Rollen gebunden, sondern wird durch die Erkundung der eigenen Identitäten und Rollen ständig neu erschaffen und durch die Interaktion mit anderen weiter verfeinert.
Systeme werden relativiert. Sie werden vom Subjekt zum Objekt und dem Prozess der Bedeutungsgebung selbst untergeordnet und von diesem organisiert. Wir sind nicht länger durch ein System von Prinzipien, Verpflichtungen und Projekten definiert, sondern haben mehrere solcher Systeme, „multiple Selbst“, von denen keines völlig kohärent ist und die unterschiedliche Werte haben – was kein Problem ist, denn sie werden alle respektiert.
Die Entwicklung über die Stufe 4 hinaus wird durch das Erkennen von Widersprüchen innerhalb und zwischen Systemen vorangetrieben. Auf Stufe 4 wird ein System durch eine Ideologie gerechtfertigt, die sich auf eine Reihe von ultimativen Prinzipien stützt. Wenn wir feststellen, dass das System nicht so gut funktioniert, wie die Ideologie es vorgibt, suchen wir nach alternativen Prinzipien. Das kann dazu führen, dass wir eine Reihe politischer oder religiöser Zugehörigkeiten annehmen, von denen jede auf den ersten Blick richtig zu sein scheint und die uns schließlich im Stich lassen.
Allerdings wird uns eines Tages klar, dass alle Prinzipien mehr oder weniger willkürlich oder relativ sind. Es gibt kein endgültig wahres Prinzip, auf dem ein richtiges System aufgebaut werden kann. Es geht nicht nur darum, dass wir noch nicht wissen, was die absolute Wahrheit ist, sondern darum, dass es sie nicht geben kann. Alle Systeme scheinen von Natur aus „leer“ zu sein.
Auf der Mitte Übergangs von Stufe 4 auf Stufe 5 scheint es deshalb üblich, sich dem expliziten Nihilismus zu verschreiben. Wenn wir verstehen, dass es keinen ultimativen Sinn gibt, kommen wir zu dem falschen Schluss, dass es überhaupt keine Bedeutungen gibt.
Schließlich stellen wir fest, dass Bedeutungen trotz des Fehlens einer letzten Grundlage weiterhin gut funktionieren. Systeme tauchen als transparente Formen wieder auf. Wir sehen nicht mehr durch Systeme, sondern können Systeme als kontingente Konstruktionen durchschauen, die die meisten Menschen fälschlicherweise für solide halten.
Stufe 3 sieht Systeme als ungerechte, allerdings unvermeidliche äußere Zwänge; Stufe 4 sieht sie als rationale Notwendigkeiten, die durch letzte Prinzipien gerechtfertigt sind. Stufe 5 erkennt an, dass sie sowohl nebulös – nicht greifbar, durchdringend, vergänglich, amorph und mehrdeutig – als auch gemustert – verlässlich, eindeutig, beständig, klar und definitiv – sind. Nebel und Muster sind allen Systemen inhärent und daher untrennbar.
Fließende Erkenntnistheorie8 kann Systeme auf eine Weise miteinander in Beziehung setzen, wie es das institutionelle Selbst nicht kann. Systeme werden zu Objekten des kreativen Spiels und nicht mehr zu Konstituenten von Selbst, Anderen und Gruppen. Eine fließende Erkenntnistheorie kann Widersprüche zwischen Systemen bequem aushalten und gleichzeitig die spezifische Funktionsweise und Rechtfertigungsstruktur jedes Systems respektieren.
Ideologien werden schließlich als Werkzeuge relativiert, und nicht als Wahrheiten. Im überindividuellen Selbst wird Rationalität als ein wertvolles Werkzeug gesehen, das nicht immer anwendbar ist; nicht-rationale Ambiguität und Paradoxie werden unproblematisch.
Im überindividuellen Selbst erkennen wir in Beziehungen an, dass alle Parteien an mehreren Bedeutungssystemen beteiligt sind, von denen viele die „nebulöse“ Grenze zwischen Selbst und Anderen überschreiten. Wir können gemeinsam das reibungslose Funktionieren dieser Systeme aufrechterhalten und gleichzeitig die humorvolle Mehrdeutigkeit der Selbstdefinition genießen. Wir beziehen uns nicht auf die Systeme der anderen, obwohl diese Prinzipien, Projekte und Verpflichtungen berücksichtigt werden müssen, sondern auf den fortlaufenden, kollaborativen Prozess der meta-systematischen Sinngebung.
Auf Stufe 5 sehen wir Gesellschaften als eine Ansammlung von vergänglichen, kontingenten Systemen, die einen relativen funktionalen Wert, allerdings keine endgültige Rechtfertigung haben. Wir sehen Konflikte zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Werten als unvermeidlich und letztlich als unproblematisch an, auch wenn sie kurzfristig manchmal schädlich sind.
Da wir auf Stufe 5 alle Werte als verhandelbar ansehen, auch wenn einige wichtiger sind als andere, können wir Brücken zwischen konkurrierenden Gruppen errichten und zur Lösung ihrer Konflikte beitragen. Wir betrachten den Wandel von Werten und Strukturen im Laufe der Zeit als inhärentes Merkmal aller Systeme und versuchen daher, sie in Richtung positiver Innovationen zu lenken, anstatt darauf zu bestehen, die aktuelle Selbstdefinition eines Systems zu bewahren.
Im überindividuellen Selbst erkennen wir an, dass Ethik keine letztgültige Grundlage haben kann, dass wir allerdings dennoch meist klare Urteile fällen können. Werte sind weder objektiv noch subjektiv. Wir verstehen, dass ethische Situationen oft von Natur aus nebulös sind und dass in solchen Fällen ethische Ängste unnötig und nicht hilfreich sind. Ethik ist eine Sache der praktischen Improvisation in Zusammenarbeit mit anderen, die auf bestimmte Situationen reagieren. Da es keine kompromisslosen Prinzipien gibt, ist ein ingenieurmäßiger Ansatz zur ethischen Beherrschung unmöglich, dafür können ethische Fähigkeiten – ein Werkzeugkasten mit Methoden für ethische Improvisationen – erlernt werden.
Die Spitze der westlichen Kultur und Gesellschaft befindet sich derzeit auf dem Übergang von Stufe 4 auf Stufe 5. Die Moderne ist zusammengebrochen, und wir haben noch kein positives neues Selbst konsolidiert in Form von persönlicher, sozialer und kultureller Fluidität. Die Postmoderne (oder der Poststrukturalismus) entspricht mit ihrer Leugnung der Möglichkeit eines Urteils und der Ablehnung aller Metanarrative der nihilistischen Lücke in genau diesem Übergang.
Neben den Stufen
Menschen auf Stufe 3 neigen dazu, Stufe 4 mit Stufe 2 zu verwechseln. Sie können den Dualismus der Systeme nicht sehen und nehmen an, dass er dasselbe ist wie der Dualismus des Eigeninteresses. Für Menschen auf Stufe 4 bedeutet die Achtung der Würde der anderen Person, sie als Erwachsene zu behandeln, die eine private psychische Sphäre haben, die uns im Allgemeinen nichts angeht. Menschen im zwischenmenschlichen Selbst sehen das institutionelle Selbst als unfreundlich und fremd an, als Aufforderung, kälter und gefühlloser zu sein oder eine distanzierte Position gegenüber den anderen einzunehmen. Nur halten Menschen auf Stufe 4 andere Menschen nicht auf der anderen Seite der Grenze, sondern ihren Anspruch.
Menschen auf Stufe 3 sehen Stufe 4 deshalb wahrscheinlich einfach als eine alternative, ethisch minderwertige Gruppe von tribalistischen Normen an. Allerdings ist Stufe 4 der Stufe 3 in dem Sinne „überlegen“, weil die Fähigkeit, auf Stufe 4 zu funktionieren, die gleichen Fähigkeiten wie auf Stufe 3 beinhaltet – und nicht umgekehrt. Es handelt sich nicht um eine symmetrische Situation und nicht um ein Duell der Ideologien, sondern um unterschiedliche soziale und persönliche Fähigkeiten. Alles, was ein vormodernes Dorf tun kann, kann auch ein moderner Nationalstaat tun, allerdings nicht umgekehrt. Alles, was traditionelle Selbstversorger:innen machen können, kann auch ein moderner Mensch lernen; allerdings kann jemand aus einer traditionellen Kultur in einer modernen Kultur nicht vollständig funktionieren, ohne sich zur Stufe 4 zu entwickeln.
Im zwischenmenschlichen Selbst neigen Menschen darüber hinaus dazu, die Logik der Stufe 4 mit rechtslastigen Ideologien, insbesondere dem Kapitalismus, zu verwechseln. Stufe 4 ist jedoch nicht per se rechts oder links. Marxismus zum Beispiel ist eine systematische, technische, rationale Kritik am Kapitalismus, und damit eine Ideologie der Stufe 4, auch wenn viele Studierende den Marxismus selten im Detail verstehen und ihn oft als einfache Ablehnung der Systematik der Stufe 3 missbrauchen. Umgekehrt ist der Rechtsextremismus der Stufe 3 weitverbreitet; der Appell an den „Schutz unserer traditionellen Gemeinschaften“.
Hilfe bei Übergängen
Der Übergang von der Gemeinschaft zur Systematik ist schwieriger geworden. Stufenübergänge können nicht allein bewältigt werden, sie erfordern soziale Unterstützung.
Wenn ein Individuum bereit ist, sich weiterzuentwickeln, sollte das soziale Umfeld damit beginnen, seine aktuelle Entwicklungsstufe infrage zu stellen. Es sollte darauf hinweisen, was in dieser Stufe nicht funktioniert, dysfunktionale Verhaltensweisen, die auf dieser Stufe basieren, missbilligen und ihre Sinnansprüche untergraben.
Während des Übergangs sollte das soziale Umfeld Unterstützung in Form eines „Sicherheitsnetzes“ bieten, dass das Individuum in Zeiten auffängt, in denen es nicht in der Lage ist, im fortgeschrittenen Selbst zu handeln. Wenn diese Individuen dann Kompetenzen erwerben, sollte das Umfeld die nächste Stufe des Funktionierens bestätigen.
In der Moderne verließen junge Erwachsene oft ihr Zuhause, um eine Position in einer systematischen Institution einzunehmen, wie einen Bürojob, der Universität oder dem Militär. Das Erlernen des Umgangs mit institutionellen Anforderungen war der Grund für den Übergang vom gemeinschaftlichen zum institutionellen Selbst. Das war nie einfach, Institutionen boten allerdings eine gewisse Unterstützung. Wichtig ist auch, dass die Legitimität der Systematik meist unbestritten war. Die Gesellschaft war sich einig, dass es eine gute Sache ist, zu lernen, in Systemen kompetent zu funktionieren.
Andere Ausblicke
Die treffende Kritik der Postmoderne an der Moderne hatte schlimme Folgen für die Möglichkeit, von Stufe 3 auf Stufe 4 zu gelangen. Der Kern des zeitgenössischen, postmodernen Lehrplans der freien Künste ist die Behauptung, dass alle Systeme lediglich willkürliche, eigennützige Rechtfertigungen für Macht sind. Das hat allerdings zur Folge, dass eine positive Identifikation mit Systemen unmöglich wird. Meistens sind es deshalb MINT-Studierende, die diesen Übergang von Stufe 3 auf Stufe 4 vollziehen können – was wahrscheinlich ein Grund dafür ist, dass sie die Welt erobern.
Auch die Institutionen kommen dem Verhalten junger Erwachsener auf Stufe 3 zunehmend entgegen und bestätigen es sogar. Und auch wenn das mit den besten Absichten geschieht, kann das Versäumnis der Institutionen, das zwischenmenschliche Selbst in Frage zu stellen, auf lange Sicht sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft schädlich sein – es ist möglich, dass unsere Kultur das persönliche Wachstum in Richtung Systematik zunehmend aktiv behindert und weniger Unterstützung dafür bietet. Immer mehr Menschen bleiben in einem früheren Entwicklungsstadium stecken. Das könnte sich als katastrophal erweisen.9
Einige Konservative haben dieses Problem erkannt und wollen sich gegen den Nihilismus der Postmoderne wehren. Das ist der richtige Impuls, denn die Postmoderne hat eigentlich recht, was die Mängel der Systematik (der Moderne) angeht. Wenn wir die Gültigkeit dieser Kritik allerdings nicht anerkennen, lässt sie uns nicht gegen diesen Konservatismus intellektuell verteidigen.
Sowohl Individuen als auch Gesellschaften sollten erkennen, dass die Systematik nicht falsch ist, sondern nur begrenzt. Sie ist ein wertvolles und notwendiges Stadium der Entwicklung. Es ist unmöglich, Stufe 5 zu erreichen, ohne Stufe 4 zu durchlaufen. Wir können nicht meta zu Systemen werden, ohne Systeme zu haben, zu denen wir meta sein können. Systematizität ist schließlich nicht das Endziel.
Ergänzende Links
- Wikipedia: Lawrence Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung
- Wikipedia: Model of hierarchical complexity
- Wikipedia: Metamodernism
Literatur
- Robert Kegan, „Die Entwicklungsstufen des Selbst“ (1982/1994)
- Robert Kegan, „In Over Our Heads“ (1994)
- Michael Basseches & Michael F. Mascolo, „Psychotherapy as a Developmental Process“ (2009)
- Elena Mustokova-Possardt et al., „Toward a Socially Responsible Psychology for a Global Era“ (2015)
- August Flammer, „Entwicklungstheorien“ (Ausgabe von 2008)
Notizen
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Die natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Sie ist für mich derzeit die nützlichste Theorie, auch wenn sie hin und wieder sehr fehlleiten kann. ↩︎︎
-
Ähnlich der Theorie der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg. ↩︎︎
-
Das ist der buddhistischen Vorstellungen von Losgelöstheit sehr ähnlich: Leid entsteht, wenn wir uns zu sehr mit unseren Gedanken, Überzeugungen, Gefühlen und so weiter identifizieren. Die Lösung ist Losgelöstheit. Losgelöstheit bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern die objektive Betrachtung dieser Dinge, was bedeutet, dass wir nicht mehr unsere Gefühle, Emotionen, Vergangenheit oder Überzeugungen sind, sondern dass wir Gefühle, Überzeugungen, Emotionen und so weiter haben. ↩︎︎
-
Eine tabellarische Darstellung gibt es in der Wikipedia. ↩︎︎
-
Empirisch belegt bei Kegan ist nur bis zu dieser. ↩︎︎
-
Dem stimme ich zu. ↩︎︎
-
Ebenso. ↩︎︎
-
Keine Begrifflichkeit von Kegan selbst, sondern von David Chapman. ↩︎︎
-
Der jüngste Aufschwung der monistischen Spiritualität könnte ein Ausdruck dieses Problems sein. ↩︎︎