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Sie sagen, dass du du selbst sein sollst, und dann verurteilen sie dich

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Saskia wuchs mit vielen Problemen rund um ihr Selbstwertgefühl auf. Ihr Vater war manisch-depressiv und schimpfte sie ständig aus für ihren Mangel an Begeisterung für alles, was mit Arbeit zu tun hatte, oder für das, was er als lohnenswert und lustig empfand.

Ihre Mutter, der Fels in der Brandung der Familie, gab ihr Bestes, um das Selbstvertrauen von Saskia zu stärken, nur damit ihr Vater es immer dann zerschlagen würde, wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllte.

Das führte zu sozialen Ängsten und Unbehagen in der Gesellschaft von anderen.

In der Schule passte sie nie in eine Gruppe oder zu einer Clique und verbrachte die Schulferien und die Wochenenden meistens allein, weil sie sich anders fühlte und jede Art von Kritik persönlich nahm.

Obwohl es ihr gelang, einige dauerhafte Freundschaften zu schließen, war sie nie in der Lage, sich unter anderen Menschen wohlzufühlen, und dieser Mangel an Vertrauen blieb ihr bis ins Erwachsenenalter erhalten.

Viele Jahre lang war sie derselbe ängstliche, nervöse und unsichere Mensch, der sie in ihrer Kindheit und Jugend war.

Sie verpasste viele soziale, finanzielle, körperliche und spirituelle Gelegenheiten, einfach, weil sie nicht das Selbstvertrauen hatte, den Sprung zu wagen und aus ihrer Komfortzone herauszukommen.

Eines Tages hatte sie schließlich genug davon und beschloss, ihr geringes Selbstwertgefühl zu überwinden und zu dem Typ Mensch zu werden, der in jeder Situation gedeihen kann. Ihre Freundinnen ermutigten sie schließlich die ganze Zeit, doch endlich sie selbst zu sein.

Also arbeitete Saskia hart an sich und fing an, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Ihre Hobbys und Interessen nahm sie ernst, und das brachte sie dazu, sich durch ihr dadurch gewonnenes Selbstwertgefühl zu öffnen, neue Menschen kennenzulernen und Freunde zu finden, und sich nicht nur in der Gegenwart von Gleichgesinnten wohl zu fühlen. Schließlich studierte sie sogar, und konnte einen Beruf in einem Bereich finden, mit dem sie sich identifizieren konnte. Sie fand einen Weg zu ihrem Glück.

Viele der Menschen, die sie dabei für Freundinnen hielt und zu denen sie aufblickte, weil die das Leben führten, dass sie selbst gerne geführt hätte, die, die ihr rieten, doch sie selbst zu sein, verschwanden dabei aus ihrem Leben: Saskia bemerkte, dass sie nicht mehr die Unterstützung bekam, dass ihre Freundinnen sich ihr gegenüber herablassend benahmen. Und schließlich sagte ihr eine alte Freundin wütend, dass sie sich verändert hätte, dass das alle gesagt hätten.

Interpretation

Hier kommen mehrere Dinge zusammen: dass wir in der westlichen Welt in einer Gesellschaft leben, die Individualismus als eines ihrer höchsten Güter sieht; dass wir Authentizität und Aufrichtigkeit sehr schätzen; dass Menschen in der Regel von sich selbst glauben, mehr sein zu können oder gar zu sein als sie tatsächlich sind; und dass wir andere Menschen ständig beurteilen und dabei neigen sie zu bewerten.

Wenn uns Menschen sagen, „sei du selbst“, dann meinen sie meist, dass wir Vertrauen in uns und in das haben sollen, was wir tun, und selten, dass wir unkonventionellen Ideen folgen oder uns unüblich ausdrücken sollen. Das kann sonst dazu führen, dass sie denken, wir würden Aufmerksamkeit suchen oder auf ihre Leben herabschauen – dass wir uns für etwas Besseres halten.

Ebenso neigen die meisten Menschen dazu, andere Menschen negativ zu bewerten, wenn sie sie nicht wirklich kennen, wenn sie ihre Glaubenssysteme, ihre Werte oder ihr Verhalten nicht erkennen können, und ganz besonders, wenn sie das Gefühl haben, dass sie darin bedroht werden, wie sie sich selbst wahrnehmen. Und ganz besonders in den letzten beiden Punkten begeben sie sich in dabei in Schleifen von negativen Gefühlen und Gedanken in die Richtung dieser Menschen.

Dazu kommt, dass gerade Menschen aus unserem unmittelbaren Umfeld oft ein Problem damit haben, wenn das, was wir tun, nicht mit ihren Vorstellungen von uns übereinstimmt, und das diese negativen Gefühle noch mehr verstärkt.

Wir können andere Menschen allerdings nicht ändern, wir können uns nicht aussuchen, wie sie uns sehen und erst recht nicht wofür. Die Interpretation dieser ÜBERSCHRIFT ist deshalb, dass du nur selbst darauf achten kannst, anderen ihre Entwicklung einzugestehen, selbst wenn du dich selbst dabei nicht so gut wegkommen siehst, wenn du dich dabei ertappst, dir einzugestehen, dass du selbst an dir arbeiten müsstest und das ablehnst, und ganz besonders, wenn du dich dabei erwischst, diese Personen zu bestrafen oder gar zu sabotieren.

Du kannst lernen, dass deine Bewertungen meistens mit dir zu tun haben, und nicht mit den Menschen, die du bewertest, und das gilt auch, wenn andere über dich urteilen. Denn meistens bewertest du andere Menschen, um dich selbst besser zu fühlen.

Der scheinbare Widerspruch in der ÜBERSCHRIFT löst sich auf, wenn Menschen an sich arbeiten: dem Loslassen von Ego, und der Fähigkeit, sich für die Erfolge anderer Menschen zu freuen – wenn dir Menschen sagen oder du feststellst, dass jemand sich geändert hat und sie ihr Ding machen, und du mit einem Lächeln und mit Freude sagen kannst, „Das hoffe ich doch“.

Randbemerkung

Der einzige Augenblick, in dem es dir die meisten Menschen „gestatten“ wirklich herauszustechen ist, wenn du es bereits tust: wenn du eine unbestreitbare Position hast, die es dir erlaubt, deinen Unterschied zu den meisten Menschen klar hervorzuheben.


Dieser Text entstand ursprünglich für die zweite Version der ÜBERSCHRIFTEN.