Schon nur die drei bisherigen Artikel zur Ich-Entwicklung haben zu einer Menge Kommentaren und Fragen geführt. Einige davon waren hervorragende Ergänzungen, andere berechtigte Kritik und wieder andere ein Ausdruck unserer aktuellen Internet-Debattenkultur.

Deshalb stelle ich hier eine lose Mini-FAQ zu ein paar Hintergründen und zu Fragen um Spiritualität, Spiral Dynamics und einigen anderen Dingen zusammen, die sich in diesem Kontext ergeben haben, damit ich einiges davon hinter mir lassen sie als Referenz später nutzen kann.

Die Antworten geben dabei meine Meinung wieder. Für das Verständnis gehe ich außerdem davon aus, dass du wenigstens „Erweiterungen und Interpretationen zu den Entwicklungsstufen des Selbst“ gelesen hast.

Und wenn du Anmerkungen oder Kommentare hast, immer gerne her damit.

Nun denn: Fragen und Antworten!

Übersicht

Was erhoffst du dir von dieser FAQ?

Ich habe nicht vor, irgendwelche Leute zu „überzeugen“, dass sie etwas „Falsches“ glauben, oder falsch liegen und ich richtig, oder was auch immer. Ich versuche auch nur, weniger falsch zu liegen.

Tatsächlich schreibe ich diese FAQ teilweise für mich – und für alle anderen, denen vielleicht bisher ein paar Informationen fehlen, um sich ihre Meinung zu bilden auf ihrer Reise der Persönlichkeitsentwicklung oder um die Welt zu retten.

Trotzdem ist es mir generell ein Anliegen, aufzuklären. Es kursiert so viel Scheiße, dass es wichtig ist, möglichst gesicherte Sichtweisen zu präsentieren. Oder zu zeigen, dass einige Dinge nicht unbedingt ideal sind, oder was die Auswirkungen davon sein können. Vielleicht wenigstens, dass sich jemand fragt, ob es wirklich das ist, was sie wollen?

„Stufen“, echt jetzt? Ich dachte, das widerspricht dem, was du sonst sagst!

Ich fange von hinten an: Ein Riesennachteil bei diesen ganzen Texten und Diskussionen um Entwicklungsmodelle ist, dass viel zu wenig geschaut wird, was sonst noch so auf dem Teller liegt.

Können wir etwa Ich-Entwicklung von der Gesamtpersönlichkeit abgrenzen? Was ist mit Persönlichkeitsmerkmalen? Kompetenzen? Spiritualität? Und so weiter. Und wie hängt das alles zusammen? Ein Mensch besteht schließlich nicht nur aus seiner Stufe der Ich-Entwicklung. Die spannende Frage ist, was mit diesen Entwicklungsmodellen dann erklärt werden kann – und was nicht.

Ich-Entwicklung, in dem Sinne hier die Entwicklung der Bedeutungskonstruktion, sehe ich mit (m)einem Blick in die Welt dabei als einen der wichtigsten und dringlichsten Faktoren an, an dem wir alle, mehr oder weniger, individuell arbeiten können, und wir sowohl auf persönlicher, als auch auf gesellschaftlicher, als auch auf globaler Ebene davon profitieren. Win-Win-Win!

Wenn das „was“ klar ist, braucht es dazu ein „wie“, das zuverlässig, gültig, unabhängig und umfassend ist. Oder anders: einen Ansatz, dem es egal ist, ob wir an ihn glauben oder nicht, und der trotzdem funktioniert.

Und da ist dann der Schulterschluss zu den Stufen der Ich-Entwicklung, denn ja, persönliche Reife lässt sich valide messen und gezielt fördern, mit den Theorien der Ich-Entwicklung von Jane Loevinger und Robert Kegan. Und dieses valide würde ich dabei gerne in den Bildschirm einhämmern.

Denn leider gibt es in der Persönlichkeitsentwicklung viele fragwürdige Ansätze. Ursprünglich war sie, und zu einem guten Teil ist sie es noch immer, esoterisch besetzt, und ist für viele daher noch immer entsprechend negativ behaftet. Wo das Problem dabei ist, dazu komme ich später noch.

Ich habe den Eindruck, dass du ein Problem mit Spiritualität und Esoterik hast.

Nicht mit Spiritualität an sich. Warum sollte ich auch? Siehe oben: Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung.

Mein „Problem“ steckt im Detail: Nicht-säkularisierte Spiritualität, sowie monistische Spiritualität, die Menschen im zwischenmenschlichen Selbst eine „Lösung“ für den Nihilismus der Postmoderne suggerieren, sehe ich als kritisch in ihrer gesamtgesellschaftlichen Auswirkung an.

Allerdings: Mit Esoterik habe ich ein Riesenproblem. Esoterik ist neben Faschismus der größte Feind (nicht nur) der Wissenschaft, und nicht ohne Grund sind beide häufig am selben Ort zu finden.1

Wieso kann Spiritualität, wenn sie sich nicht zusammen mit dem Ich entwickelt, problematisch sein?

In einem Satz? Weil sie so bereits in der Einfahrt der Esoterik parkt.

Von Ken Wilber, der auch so ein Thema für sich ist, gibt es da ein Konzept zu, dass die Problematik aufzeigt: die „Vor/Danach-Täuschung“ („Pre/Trans Fallacy“):

Menschen neigen dazu, das, was vorkonventionell ist2 (eine frühere Entwicklungsphase), mit dem zu verwechseln, was postkonventionell3 ist (eine spätere Entwicklungsphase) – einfach deshalb, weil beides nicht konventionell4 ist.

Ein Beispiel, das er dafür nennt, sind die New-Age-Bewegungen, die eine Rückkehr zu einem infantilen Zustand, in dem wir nur nach Gefühl und Verlangen handeln, glorifizieren. Dabei werden diese früheren, narzisstischen emotionalen Launen mit spirituellen Erfahrungen verwechselt, denn sowohl emotionale Schwelgerei als auch spirituelle Erfahrungen sind nicht-rationale Erfahrungen.

Dieses Konzept lässt sich auf viele Bereiche der persönlichen und sozialen Entwicklung anwenden.

Letztlich verhindert so eine mehr oder weniger auf Spiritualität fokussierte Entwicklung, statt die Ich-Entwicklung zu ergänzen, eine tatsächliche Ich-Entwicklung, da sie Menschen in ihrer konventionellen Entwicklungsphase mit vorkonventionellen Lösungsansätzen versorgt, die für sie nicht unterscheidbar von der späteren postkonventionellen Entwicklung sind, aber dafür gehalten werden:

Die „vorkonventionell gelebte“ Spiritualität führt zu einem teilweisen Rückzug auf frühere Entwicklungsphasen der Ich-Entwicklung, mit allen Problemen, die damit in modernen Gesellschaften einhergehen. Sie löst nichts; sie ist regressiv und sie leugnet. Das ist dann Esoterik5 – als wäre die konventionelle Entwicklungsphase selbst nicht schon, aus den verschiedensten Gründen, problematisch genug.

Und dann gibt es auch noch das Problem der praktischen Anwendbarkeit, sich auf einen primär spirituellen Fokus in der Persönlichkeitsentwicklung zu konzentrieren: Wichtige globale und soziale Themen werden oft nur am Rande erwähnt, um einen bestimmten Grad der Bewusstseinsentwicklung zu beschreiben, mit der übergreifenden Implikation, dass „sie“ halt nicht so weit entwickelt sind wie „wir“.

Philosophien, die darauf basieren, so viel wie möglich einzubeziehen und zu integrieren, werden erstaunlich oft durch viele Praktizierende dadurch ausgedrückt, dass sie eine hermetisch6 abgeschottete Blase um sich herum bilden.

Außerdem gibt es da auch noch diese Verleugnung der menschlichen Natur: Keine noch so tiefe spirituelle Erfahrung kann unsere körperlichen und ursprünglichen Triebe nach Macht, Lust und Bestätigung unterbinden.

Das schließlich ganz unabhängig davon, dass die meisten Menschen ihre konventionelle Entwicklungsphase nicht vollständig durchleben, was aber notwendig wäre, um tatsächlich in die – gesellschaftlich und planetar gedacht dringend notwendige – späte konventionelle oder vielleicht sogar frühe postkonventionelle Entwicklungsphase zu gelangen, und auf dem Weg dabei ihre Spiritualität fortwährend zu kontextualisieren und zu entwickeln.

Keine (Ich-)Entwicklungsstufe kann übersprungen werden.

Was ist das mit der „nicht-säkularisierten Spiritualität“?

Spiritualität und Wissenschaft haben im Kern eine Gemeinsamkeit: die Suche nach Wahrheit.

Sehr wahrscheinlich gibt es zwar keine „finale Gewissheit“, trotzdem können wir unter Vorbehalt eine pragmatisch verlässliche Überzeugung pflegen. Das ist das Grundverständnis des Begriffs „Glauben“, das deshalb auch nicht im Gegensatz zu dem vom Begriff „Wissen“, sondern in einem von Fall zu Fall klärendem Verhältnis der Verlässlichkeit steht:7

Wenn etwas zuverlässig, gültig, unabhängig und umfassend ist, hat das immer Vorrang gegenüber den Dingen, die es nicht sind, weil sie in dem Rahmen eine Realität mitgestalten, auf die wir uns alle und untereinander und in Abwesenheit verlassen können.8

Und wenn selbst also „absolutes Wissen“ nicht zu erreichen ist, müssen wir uns bemühen, Ungewissheit ständig zu minimieren und Irrtümer möglichst auszuschließen, um dieser Suche nach der Wahrheit gerecht zu werden und Verlässlichkeit zu verbessern.

Dass wir also grundsätzlich falsch liegen können, bedeutet, dass jedes Weltbild auch ständig überprüft werden muss. Wenn es bis dahin unbekannte Gründe gibt, diese Weltbilder und die zugrunde liegenden Dogmen zu verwerfen oder wenigstens anzupassen, dann müssen diese Gründe auch ernsthaft berücksichtigt werden.

Wer gläubig ist, ist es, weil sie von der Wahrheit des Geglaubten überzeugt sind. Und wenn diese Überzeugung gerechtfertigt ist, muss auch keine neue Erkenntnis gefürchtet werden. Sie würde das Geglaubte entsprechend nur bestätigen oder verbessern. Die Konsequenz daraus gilt allerdings auch in die andere Richtung.

Wenn allerdings Spiritualität so gelebt wird, nur glauben zu wollen, als eine „Antwort“9 oder um sich gut zu fühlen, ohne wirklich Wahrheit selbst zu suchen, ohne also das Weltbild regelmäßig kritisch zu hinterfragen, dann hängt da vielleicht das zwischenmenschliche Selbst dran, in dem es kein Bedürfnis für rationale Begründungen gibt, oder die Intoleranz gegenüber widersprüchlichen Werturteilen – was letztlich aber keine Rolle spielt, weil hier ein harter, schwer zu überwindender Bruch in Richtung Esoterik entstanden ist.

Die Antwort auf eine Frage wie „Aber es gibt auch Wissenschaftler, die an Gott glauben?“ kann dann vielleicht „Ja, und sie halten sich trotzdem an die wissenschaftliche Methode.“ sein. Da ist kein Widerspruch, sondern genau der Hinweis, dass es Dinge gibt, die rational betrachtet werden sollten, und Dinge, die nicht rational betrachtet werden können.

Das Nicht-Anerkennen der Ergebnisse oder nur schon das Relativieren der wissenschaftlichen Methode ist dann, entsprechend der damit einhergehenden teilweisen Regression in eine frühere Entwicklungsphase, oft auch nicht mehr weit vom magischen Denken. Auch Dinge wie „Manifestationen“ oder das „Gesetz der Anziehung“ haben mehr mit (einer narzisstischen) Realitätsverweigerung zu tun, als mit Wahrheitsfindung irgendeiner Art.

Was ist das mit der „monistischen Spiritualität“?

Monistische Spiritualität ist eine Philosophie, nach der „alles eins“ ist, lediglich in verschiedenen Ausprägungen. Monismus10 leugnet das „Getrenntsein“ und die Vielfalt – die Annehmbarkeit von Besonderheiten.

In dieser Philosophie findet sich die Meinung, dass das Wesentliche das Abstrakte und das Allgemeine ist, und die physische Welt, so wie „wir“ sie wahrnehmen, überwunden werden sollte. Nach ihr sind alle Religionen und Philosophien im Wesentlichen dasselbe, und dass sie auch entsprechend die „finale Gewissheit“ anstreben – der des Monismus.

Monistische Spiritualität ist im gewissen Maße genauso zu kritisieren wie nicht-säkularisierte Spiritualität. Allerdings sind Monist:innen „weiter“. Sie verteidigen Dinge, indem sie etwas sagen wie, „Woher willst du wissen, dass das mit den Schwingungen so nicht stimmt? Ist das nicht nur deine Sichtweise?“ Und da gibt es natürlich eine gute Antwort darauf, nur ist das keine, die Monist:innen überzeugen würde.

Die monistische Spiritualität hat in letzter Zeit dabei einen immensen Aufschwung erlebt. Beweise oder Vernunft sind offensichtlich nicht der Grund dafür – wohl aber eine Reihe von Versprechungen, die Menschen gerne glauben wollen. Und sie akzeptieren sie, weil der monistische Rahmen Antworten und Einwände hat, die eine überzeugende Logik haben, wenn man erst einmal drin ist.

Sie scheint so Antworten auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft zu liefern, statt Komplexität und Bedeutungskonstruktion progressiv zu begegnen – was allerdings unerlässlich ist, um Ich-Entwicklung voranzutreiben.

Monistische Spiritualität an der Stelle verleugnet schließlich Komplexität, indem sie versucht, sie als „Ausprägungen derselben Sache“ wegzuerklären. Sie kann so andere Systeme nicht zulassen, erst recht nicht das Bestehen mehrerer gleichzeitiger Systeme; schon gar nicht die Postkonventionalität an sich. Sie verhindert so aktiv sich weiter entwickelnde Bedeutungskonstruktion.

Ein Beispiel dafür ist, wenn Monist:innen sagen, dass sie „keine Hautfarbe sehen“ – schließlich sind wir ja alle Menschen, und das ist nur eine „Ausprägung“ davon, und das klingt erst einmal sehr überzeugend und gut. Das ist allerdings eine totale Ausblendung und Verleugnung sämtlicher struktureller und systemischer Probleme, denen Menschen besonders mit nicht-weißer Hautfarbe ständig begegnen. Die Idee, wenn alle Menschen das monistisch sehen würden11 – das „Verallgemeinern“ –, macht es so zu einem vorgeblichen Nichtproblem, das eben völlig an der Realität von betroffenen Menschen vorbei ist. Im schlimmsten Fall wird so das Verweigern der Übernahme von Verantwortung legitimiert.

Menschen, die zum Monismus neigen, werden deshalb die Entwicklung in den späten konventionellen Phasen, besonders zur frühen postkonventionellen Phase, oder vom zwischenmenschlichen Selbst zum institutionellen Selbst, am schwierigsten finden.

Wenn jemand also von sich aus sagt, dass ihnen monistische Spiritualität dabei hilft, die Komplexität der Welt zu bewältigen, dann ziehe ich den Hut vor dieser Selbsterkenntnis und Aufrichtigkeit. Allerdings kommuniziert das gleichzeitig das Ende und den wahrscheinlichen Stand ihrer Ich-Entwicklung12 und ist ein mitunter ein Indiz für eine esoterische Weltsicht.13

Okay, mal langsam, was anderes, ich dachte, „Spiral Dynamics“ ist ein Ansatz, um die Welt zu verbessern?

Eigentlich, ganz eigentlich, müsste dieser einleitende Satz aus der Wikipedia zu Spiral Dynamics genug sein, um alles zu sagen:

„Spiral Dynamics ist ein eingetragenes Warenzeichen im National Values Center, Inc. Unter diesem Namen wird von der Spiral Dynamics Group, Inc eine Theorie über die Entwicklung von menschlichen Weltanschauungsebenen (gewissermaßen das allgemeine „Lebensgefühl“) vermarktet.“

Ist er aber leider nicht.

Ich gebe gerne zu, dass Spiral Dynamics bis zu einem gewissen Grad ein interessantes und vielleicht sogar nützliches Werkzeug sein kann. Und ohne Spiral Dynamics und der Person, die mir dieses Modell vorgestellt hatte, hätte ich wahrscheinlich meine Persönlichkeitsentwicklung in der Form nicht kultiviert und professionalisiert – was auch nach links und rechts heraus eine Menge Positives für mich bewirkt hat.

Allerdings macht das Spiral Dynamics selbst nicht weniger problematisch. Das Modell widerspricht in vielen Punkten Physik, Biologie und dem, was wir über menschliche Entwicklung wissen. Befürworter:innen geben allerdings gerne den Anschein, als sei Spiral Dynamics wissenschaftlich basiert.14 Ohne jetzt auf den Stand der Wissenschaft einzugehen: Nur dafür werden schon zu viele Dimensionen der Entwicklung in die „Spirale“ integriert, die der Logik nach „nach oben“ immer komplexer wird.

Und bereits einfache Behauptungen, wie, dass Menschen, wenn sie sich nur weit genug nach oben entwickeln15, dem Egoismus und dem Wettbewerb abschwören würden und so gute Menschen werden, sind so nicht haltbar. Eher im Gegenteil: Das Erzwingen „türkiser“ Gemeinschaften wird zu missbräuchlichen Kulten führen, weil dann versucht wird, etwas real zu machen, was so nicht real sein kann.16

Natürlich kommt die Idee selbst davon bei Menschen, die glauben wollen, dass der Mensch prinzipiell gut sei, auch gut an. Und auch, wenn ich weiß, wozu der Mensch im Guten fähig ist, zeigen ganz praktisch die Umstände, und nebenbei auch die moderne Wissenschaft und eben vieles, was wir über Biologie und die menschliche Entwicklung, dass Spiral Dynamics da die Augen fest verschlossen hat.17

In seiner Arbeit hebt Beck18 übrigens hervor, dass eines der Merkmale von Personen der „zweiten Schicht“ („Second Tier“), die auch „Spiral Wizards“ genannt werden, darin besteht, dass sie in der Lage sind, bessere Entscheidungen für alle Beteiligten zu treffen und mit Hilfe von Resonanzbegriffen und -ideen Zustimmung für ihre Ansätze auf niedrigeren Ebenen herzustellen.

Spiral Dynamics skizziert also nicht nur eine dafür zugrunde liegende Entwicklungstheorie, sondern gibt diesen „Wizards“ auch explizite Vorschläge für das einvernehmliche und nicht-einvernehmliche Management von Personen der „ersten Schicht“ („First Tier“). Das erinnert sicher nicht nur mich an Nietzsches Idee vom Übermenschen.

Was darüber hinaus auch gerne vergessen wird, ist, dass Spiral Dynamics als Unternehmen agiert, aggressiv seine alleinige Verwendung der Terminologie verteidigt und an Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik als Mittel zur sozialen Manipulation vermarktet wird.19

Stellen wir uns nun die Weltsicht von jemandem vor, die Spiral Dynamics auf diese Weise anwenden: Sie bewegen sich als überlegene Wesen durch die Welt und sehen um sich herum arme Tröpfe, die der Erleuchtung bedürfen und wissen, dass nur wenige das Potenzial haben, so zu werden wie sie.20

In vielerlei Hinsicht kann ich also nur zusammenfassend sagen, dass Spiral Dynamics eine Ideologie ist. In den Worten eines Freundes: Es ist ein immunisiertes Modell, das nicht falsifizierbar ist.21

Clare W. Graves und „ECLET“

Dem Modell von Spiral Dynamics – sowie dem vieler anderer Stufenmodelle – liegt die Theorie der „Emergent cyclical levels of existence“ („ECLET“) von Clare W. Graves zugrunde.

Die ist hier an der Stelle ganz kurz „abgefrühstückt“: Die Datenlage ist dünn und die Auswertung gilt als zu vage, die Erhebung selbst war fragwürdig – und die Theorie wurde nie wieder in einer entsprechenden wissenschaftlichen Methode wiederholt oder überprüft.

Da fällt mir eher ein, dass mich jemand anschrieb, und erzählte22, dass er …

„… jetzt auch ‘Ich-Entwicklung für effektives Beraten’ von Thomas Binder gekauft und gelesen [habe], und das alles total einleuchtend und wirklich krass empirisch fundiert ist. Allerdings wundere ich mich, dass Graves nur einmal und Spiral Dynamics gar nicht erwähnt wird. Woran liegt das?“

Ja, woran wohl?

Und das meine ich wirklich nicht sarkastisch: Wenn jemand ECLET unter wissenschaftlich gültigen Kriterien schon nur empirisch belegt haben sollte, dann lasse ich mich sehr, sehr gerne eines Besseren belehren und werde selbstverständlich diesbezüglich alles neu evaluieren.

Bis dahin ist aber alles, was auf der Theorie von Graves basiert, vielleicht schön zu lesen und hat ein an sich sicherlich erstrebenswertes Ideal, allerdings ist es nicht zuverlässig, gültig, unabhängig und umfassend, und sollte daher nicht für ernstzunehmende Entwicklung als Grundlage genutzt werden.

Es gibt einfach bereits Ansätze, die das sind und leisten und liefern können.

Neun Ebenen, Copyright-Zeichen und der ganze Rest

Das mitunter bekannteste Buch rund um Spiral Dynamics, Frederic Lalouxs „Reinventing Organizations“, habe ich bewusst nicht extra erwähnt und besprochen.

Vielleicht, weil das dann inzwischen Zeitverschwendung durch Redundanz ist, es hier in dieser FAQ zu besprechen, warum eine „Teal“-Organisation (also eine „türkise“) aus so vielen Gründen nicht funktionieren kann.23

Ich kann Manager:innen vielleicht nur empfehlen, das Buch nicht nur zu referenzieren, sondern auch tatsächlich zu lesen. Wenn nicht schon die „drei Gehirne“ auf den ersten Seiten zur ernsthaften Verwunderung führen, kann ich nur sagen, dass es in dem Unternehmen ganz andere Probleme gibt.

Bemerkenswert finde ich übrigens auch, dass mir bisher keine „Beraterfirma“, die eine eigene Variante der Theorie von Graves erdacht und benannt hat, untergekommen ist, die kein albernes Copyright-Zeichen in der Unternehmenskommunikation benutzt. Das zu Werten und Aufklärung und Weltverbessern – das hat ein Geschmäckle einer esoterischen Unternehmensführung.24

Ein eher lustiges Highlight am Rande meiner Recherchen ist übrigens ein Dienstleister gewesen, der sich auf wissenschaftlich gültige Methoden in seiner Ebenen-Beratung beruft, die dann da wären, wissenschaftlich gesichert zu haben, dass die Auswertung seines Fragebogens mit den Ebenen der Theorie von Graves korreliert. Ich wünschte, ich könnte mir so Sachen ausdenken.

Sonstige Fragen

Bei dem Tenor dieser FAQ wären vielleicht auch Fragen rund um „positive Psychologie“, dem Enneagramm, dem MBTI oder der NLP von Interesse.

Ich sage da einfach „Nein“ zu allem, und wünsche stattdessen ein aufrichtig ehrliches Interesse wenigstens beim Lesen der „Kritik“-Abschnitte in den Links.

tl;dr:

Wenn du es wirklich ernst meinst mit den Stufen deiner Ich-Entwicklung, stell sicher, dass du auf der richtigen Treppe stehst, und nicht in einem Traumschloss.

Und wenn du Anmerkungen oder Kommentare hast, immer gerne her damit.

Fußnoten

  1. Das geht allerdings über den Inhalt dieser FAQ hinaus. ↩︎
  2. Die konkret-individuelle, nicht-sozialisierte Perspektive, die vorwiegend am eigenen Selbst orientiert ist. ↩︎
  3. Eine der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive, die sich unabhängig davon an allgemeinen Prinzipien orientiert und die Relativität der eigenen Sichtweisen anerkennt. ↩︎
  4. Die Ebene des sozialisierten Individuums: an Erwartungen, Normen und Regeln der Gesellschaft oder Teilbereichen davon orientiert. ↩︎
  5. Esoterik versucht Realität so zu beschreiben, dass sie sich dem Ich unterwerfen soll. ↩︎
  6. Oh, der Kalauer. ↩︎
  7. Jepp, kritischer Rationalismus und „intellektuelle Redlichkeit“. Wobei dann „pankritischer Rationalismus“ – und das den Prozess selbst schon verdeutlicht. ↩︎
  8. Das streitet keine nicht-rationalen Erfahrungen ab. ↩︎
  9. Insbesondere in diesem Kontext hier auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaften, die alle auf dem institutionellen Selbst beruhen. ↩︎
  10. Im folgenden Text nutze ich den Begriff allgemein für diese Definition. ↩︎
  11. „Wenn sie doch nur kooperieren würden“, ein praktisches Problem im zwischenmenschlichen Selbst. ↩︎
  12. Monismus, oder vielleicht genauer Non-Dualismus, aus einer sehr viel späteren, postkonventionellen Entwicklungsphase heraus ergänzend kann etwas anderes sein, muss aber trotzdem die vorherigen Ich-Entwicklungsstufen integriert haben – und das bedeutet eben auch das gelebte Akzeptieren und Aushalten von (Meta-)Systemen, Widersprüchen, Ambiguitäten, Paradoxien und so weiter. ↩︎
  13. Wie die Neugeist-Bewegung, die bereits sehr viele Konzepte des Monismus beinhaltet. ↩︎
  14. Dazu gleich mehr im Abschnitt Clare W. Graves und „ECLET“↩︎
  15. Aus gutem Grund wird in der Entwicklungspsychologie von „früher“ und „später“ gesprochen – dazu gleich auch noch mehr. ↩︎
  16. Hanzi Freinacht, „The Listening Society“, Sektion „Major Implications“, Abschnitt „Death to Turquoise“. ↩︎
  17. Menschen, die sich für „türkis“ (oder höher) halten, bekommen ihre Nicht-Spiral-Dynamics-Dimensionen nicht integriert. ↩︎
  18. Don Beck, einer der beiden Autoren. Der andere ist Christopher Cowan, der sich öffentlich von den Ideen distanziert, die derzeit von seinem Ex-Partner Beck in Verbindung mit Ken Wilber propagiert werden. ↩︎
  19. Viel Spaß auf ihrer Website↩︎
  20. Wovor Spiral Dynamics übrigens selbst warnt. Welch Ironie! ↩︎
  21. Wenn Spiral Dynamics in den „höheren“ Stufen nicht funktioniert, dann nach eigener Aussage deshalb, weil nicht alle Probleme auf „niedrigeren“ Stufen gelöst wurden. ↩︎
  22. Indirekte Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis. ↩︎
  23. Da fällt mir „Das Elend des Historizismus“ von Karl Popper zu ein. ↩︎
  24. Statt natürlich dem vorgeblichen „wir“, „kein Ego“ und „ohne Wettbewerbsgedanken“ zu folgen und mit ähnlich fabulierenden Unternehmen und Unternehmer:innen zusammenzuarbeiten. ↩︎

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