FN 4: Das Leistungstheater
Das jährliche Ritual: Im Raum das Organigramm als Karte des Soll-Zustands. Die Aufgabe: Jede Person in eine von drei Schubladen zu sortieren. „Top Performer“, „Durchschnitt“, „Low Performer“. Ein bürokratisches Opfer, dargebracht auf dem Altar der scheinbaren Leistungssteigerung – die Quote muss erfüllt werden.
Das bevorzugte Werkzeug ist oft ein Spinnennetz-Diagramm. Es soll Komplexität bändigen, indem es menschliches Potenzial auf Achsen wie „Innovationskraft“ oder „Teamfähigkeit“ presst. Das Ideal ist ein perfekter Kreis – eine Fiktion, die mehr über die Kontrollfantasien des Systems aussagt als über die Realität der Wertschöpfung. Der Glitch
liegt tiefer als in der Methode. Er liegt in der Grammatik des Systems.
Diese Grammatik behandelt Verhalten wie einen technischen Parameter, den wir justieren zu können glauben. Sie ignoriert die fundamentale Physik: Verhalten ist eine emergente Eigenschaft des Systems. Der Versuch, es als isoliertes Attribut des Individuums zu behandeln, ist der Kern des Fehlers. Wir versuchen, die Schatten an der Wand zu managen, anstatt die Position der Lichtquelle zu verändern.
Zur Klarstellung: In einem Umfeld, das für reine Compliance optimiert ist, mag das Werkzeug taugen. Es misst, ob ein Protokoll befolgt wird. Doch in jedem System, das von Initiative, Kreativität und Anpassung lebt, ist das Messen von Compliance eine Farce, die sich als Leistung tarnt.
Und genau hier erzeugt das System nicht nur unbrauchbare Daten. Es erzeugt exakt das Gegenteil seiner Absicht. In der Praxis manifestiert sich der Glitch
in vier bekannten Mustern:
- Der Konformitäts-Filter: Expert:innen einer neuen Abteilung – Data-Science, R&D – werden von Führungskräften des etablierten Kerngeschäfts beurteilt. Das Urteil ist vorprogrammiert: Da die neuen Fähigkeiten nicht in die alten Schablonen passen, gilt niemand als „exzellent“. Die Bewertung wird zu einem Instrument, das Konformität mit dem Bekannten belohnt und den tatsächlichen Beitrag ignoriert.
- Die Headhunter-Prämie: Die frisch gekürten „Top Performer“ nutzen ihren neuen Status als Zertifikat für den Absprung. Das Programm zur Bindung von Leistungsträger:innen wird zur bestens organisierten Recruiting-Veranstaltung für die Konkurrenz.
- Die Energie-Senke: Einspruchsverfahren, Quoten-Debatten und die jährliche Angst vor dem Urteil binden absurde Mengen an Energie. Energie, die dem System für seine eigentliche Aufgabe entzogen wird: im externen Umfeld zu bestehen.
- Der Loyalitäts-Exploit: Der größte Schaden ist der stille Vertrauensbruch. Ein:e wertvolle:r Mitarbeiter:in kündigt. Plötzlich sind Gehaltserhöhungen und Beförderungen möglich, die Wochen zuvor undenkbar schienen. Die Botschaft an alle, die bleiben, ist verheerend: Euer Wert wird erst dann anerkannt, wenn ihr das Spiel zu verlassen droht.
Solche Systeme erzeugen die Illusion von Kontrolle. Ihre Kollateralschäden sind fast immer teurer als das Problem, das sie lösen sollen.
Die strategische Frage wird damit zu: Wie nutzen wir das System gegen sich selbst? Wie nutzen wir seine Regeln, seine Trägheit und seine blinden Flecken, um Inseln echter Wirksamkeit zu schaffen?
Das Manöver ist eine HUMINT
-Operation im eigenen Haus, um Ground Truth
zu erzeugen. Es hat drei Phasen:
- Die Zelle formieren: Du identifizierst zwei Personen. Eine, die Gefahr läuft, als „Low Performer“ abgestempelt zu werden, obwohl du Potenzial siehst. Eine zweite, die wahrscheinlich knapp am „Top Performer“-Status vorbeischrammt, weil sie nicht ins Raster passt.
- Die Mission erteilen: Zusammen mit einer dritten Person – einer Kollegin aus einem angrenzenden Bereich oder dir selbst – erhält dieses Trio einen realen, anspruchsvollen Auftrag mit klarem Ziel, aber offenem Weg. Zum Beispiel: die Lösung eines echten, ungelösten Kundenproblems innerhalb von vier Wochen.
- Das Lagebild erstellen: Du beobachtest die Interaktionen. Wer ergreift die Initiative, wenn es schwierig wird? Wie werden Konflikte gelöst? Welche verborgenen Stärken treten zutage, die in keinem Spinnennetz-Diagramm der Welt auftauchen? An die Stelle des subjektiven Top-Down-Urteils tritt dein datengestütztes Lagebild der tatsächlichen Dynamik.
Ein solches Manöver ist mehr als eine clevere Umgehung. Es ist ein Akt strategischer Zweckentfremdung: Wir arbeiten mit dem, was da ist, um Neues zu schmieden. Wir ersetzen einen fiktiven Report durch einen realen Operationsbericht.
Der Kern des Manövers liegt in der Gestaltung der Bedingungen, unter denen Realität entsteht, unter denen Realität entsteht – und das gewonnene Lagebild als unsere Währung im System nutzen.