Die Alexanderschlacht (Albrecht Altdorfer, 1529)Die Alexanderschlacht (Albrecht Altdorfer, 1529)

September 2022. Siebzig Kilometer vor der Krim. Ukrainische Drohnenboote, beladen mit Sprengstoff, nähern sich der russischen Schwarzmeerflotte. An Bord jedes Bootes: ein Starlink-Terminal. Die Verbindung ist stabil, das Ziel klar: die Fregatte Admiral Makarov, von der aus Russland seit Monaten ukrainische Küstenstädte beschießt.

Dann bricht die Verbindung ab.

„Jeder war angespannt, wir waren kurz davor, anzugreifen“, erinnert sich einer der Beteiligten. „Und dann wurde unsere Kommunikation gekappt. Elon Musk schaltete Starlink ab, das wir zur Steuerung der Schiffe nutzten.“ In einem Bunker versuchte der ukrainische Digitalminister Mykhailo Fedorov, Musk zu erreichen, zu überzeugen. Die Amerikaner sagten, es sei ein privates Unternehmen. Sie könnten keinen Druck ausüben.

Die Drohnenboote trieben an Land, harmlos. Die russische Flotte blieb intakt. Musk twitterte später, er habe eine Eskalation zum Dritten Weltkrieg verhindern wollen. Das Pentagon hatte keine Handhabe. SpaceX ist kein Staat. Starlink ist keine Armee. Aber in diesem Moment, in diesem Krieg, hatte ein Unternehmer eine Entscheidung getroffen, die früher nur Regierungen treffen konnten.

Das ist das Neomittelalter. Und es hat bereits begonnen.

Das Mittelalter: als Autorität noch verhandelbar war

Um zu verstehen, wohin wir gehen, müssen wir verstehen, woher wir kommen und wohin wir vielleicht zurückkehren.

Im Mittelalter war Autorität keine klare Linie, sondern ein Netz – ein Geflecht überlappender Loyalitäten, konkurrierender Ansprüche und fragmentierter Macht. Ein Bauer in Flandern schuldete seinem lokalen Lehnsherren Treue, der einem Herzog diente, der dem König von Frankreich unterstand, der nominell dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches untergeordnet war, welcher wiederum dem Papst in Rom geistliche Gefolgschaft schuldete. Jede dieser Ebenen hatte ihre eigenen Rechte, Armeen und Gesetze.

Wer hatte das Gewaltmonopol? Niemand. Und alle.

Der König konnte Krieg erklären, aber auch der Herzog, der Lehnsherr, die Stadt und die Kirche. Gewalt war nicht monopolisiert; sie war eine Dienstleistung, die man kaufen konnte. Söldner kämpften für den, der bezahlte: Condottieri in Italien, Landsknechte in Deutschland, die Schweizergarde, die heute noch den Papst bewacht. Loyalität war verhandelbar, Territorium fließend, Grenzen waren Vorschläge, keine Gesetze.

Das war kein Chaos, sondern ein System. Ein kompliziertes, ineffizientes, oft brutales System, das aber nach seiner eigenen Logik jahrhundertelang funktionierte.

Dann kam der Dreißigjährige Krieg.

Die Moderne: der Westfälische Frieden als Anomalie

Von 1618 bis 1648 herrschte dreißig Jahre lang Krieg. Es war nicht ein einziger Konflikt, sondern vier Kriege gleichzeitig: ein Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten, ein Hegemonialkrieg zwischen Frankreich und den Habsburgern, ein Verfassungskonflikt zwischen Kaiser und Reichsständen und ein Territorialkrieg um Grenzen und Ressourcen.

Europa verblutete. Ein Drittel der Bevölkerung starb in manchen Regionen, meist nicht durch Schlachten, sondern durch Hunger, Seuchen und die Söldnerheere, die durchs Land zogen. Die Kriegsunternehmer, die Armeen aufstellten und sie an den Höchstbietenden vermieteten, hatten kein Interesse am Frieden. Krieg war ihr Geschäft.

Irgendwann war allen klar, dass das enden musste – nicht weil jemand gewonnen hatte, sondern weil alle erschöpft waren. Die Ressourcen waren aufgebraucht, niemand konnte durch Weiterkämpfen noch etwas gewinnen.

1648, in Münster und Osnabrück, versammelten sich Gesandte aus ganz Europa. Hundertzehn Delegationen, sechzehn Staaten, über hundert Reichsstände. Sie verhandelten fünf Jahre über Religion, Territorium, Macht und die Frage: Wie organisieren wir uns, damit das nie wieder passiert?

Das Ergebnis war der Westfälische Frieden. Und mit ihm eine Idee, die die nächsten dreihundert Jahre prägen sollte: Das Gewaltmonopol des Staates.

Die Logik war simpel: Wenn jeder Krieg führen kann, führt jeder Krieg. Wenn nur Staaten Krieg führen dürfen – souveräne Staaten mit klaren Grenzen und Regeln –, dann kann man Krieg regulieren, eindämmen, vielleicht sogar verhindern.

Das Westfälische System basierte auf drei Prinzipien:

  1. Souveränität → Jeder Staat ist souverän. Keine Instanz steht über ihm – kein Papst, kein Kaiser; nur andere souveräne Staaten.
  2. Territorialität → Staaten haben klare Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen haben sie das Gewaltmonopol. Nur der Staat darf legitim Gewalt ausüben.
  3. Legalität → Staaten sind untereinander gleichberechtigt. Krieg als Mittel der Politik ist legitim, aber er folgt Regeln. Er wird erklärt und zwischen Staaten geführt, nicht zwischen Söldnern, Städten, Kirchen und Fürsten.

Das war ein revolutionärer Gedanke, die Geburt der Moderne und das Ende des Mittelalters. Es war der Beginn einer Ordnung, in der klar war, wer das Sagen hat: Der Staat. Und nur der Staat.

Aber es war auch eine Anomalie, ein historischer Sonderfall. Dreihundert Jahre, in denen das Gewaltmonopol des Staates funktionierte, weil die Technologie es ermöglichte und die Umstände es erzwangen.

Jetzt ändern sich die Umstände und die Technologie. Und das Gewaltmonopol erodiert.

Das Neomittelalter: die Rückkehr (mit Technologie)

Die RAND Corporation, Denkfabrik des Pentagon, nennt das, was kommt, in ihrer offiziellen Analyse für das Office of the Secretary of Defense das Neomittelalter. Nicht als Metapher, sondern als Diagnose.

Es ist eine Welt, in der die Kategorien des zwanzigsten Jahrhunderts – staatlich und privat, Krieg und Frieden, legal und illegal – ihre Trennschärfe verlieren. In der das Gewaltmonopol des Staates erodiert, weil private Akteure Fähigkeiten entwickeln, die früher nur Staaten hatten. In der Autorität wieder verhandelbar wird, fragmentiert, überlappend.

Wie im Mittelalter. Aber mit Satelliten, Drohnen, Verschlüsselung und Technologie, die es Individuen und Unternehmen ermöglicht, Dinge zu tun, für die früher eine Armee gebraucht wurde.

Starlink ist nur ein Beispiel, aber ein präzises. Ein Unternehmen kontrolliert zweiundsiebzig Prozent aller aktiven Satelliten im Orbit – über fünftausend Satelliten, mehr als alle Staaten der Welt zusammen. Und der Mann, der dieses Unternehmen kontrolliert, trifft Entscheidungen über Kriegsverläufe. Nicht weil er gewählt wurde, sondern weil er die Infrastruktur besitzt.

Das Pentagon ist nicht mehr Monopolist orbitaler Kriegsführung. Es ist Kunde. Ankerkunde, vielleicht. Aber Kunde. SpaceX kündigte nach der Ukraine-Krise Starshield an, eine militarisierte Version von Starlink, speziell für Regierungen. Kriegsführung als Dienstleistung. Das Gewaltmonopol wird zur Abo-Leistung.

Das ist keine Zukunftsvision, sondern die Gegenwart.

Die Zeichen: eine Kartierung des Neomittelalters

Lass uns die Muster lesen – die Zeichen, die zeigen, dass wir bereits im Neomittelalter leben, auch wenn wir es noch nicht so nennen:

Private Armeen kehren zurück

Die Wagner-Gruppe. Offiziell eine private Militärfirma, inoffiziell Putins Armee, die nicht Putin gehört. Gegründet von Jewgeni Prigoschin, finanziert aus dem russischen Verteidigungsbudget (eine Milliarde Dollar allein 2022-2023), aber mit genug Distanz, dass der Kreml sagen kann: Das sind wir nicht.

Wagner kämpfte in Syrien, der Ukraine, Libyen (wo sie Ölfelder für General Chalifa Haftar besetzten), im Sudan (Goldminen als Bezahlung) und in der Zentralafrikanischen Republik (Diamantenminen für Regimeschutz). In Mali kassierten sie zehn Millionen Dollar pro Monat, um gegen Islamisten zu kämpfen, und massakrierten im März 2022 über fünfhundert Zivilisten.

Nach Prigoschins Tod wurden Wagners Aktivitäten durch Africa Corps übernommen, aber die Struktur und die Methode sind dieselben: Sicherheit gegen Ressourcen. Private Gewalt als Außenpolitik. Das ist nicht einzigartig russisch; Blackwater (jetzt: Academi) operierte für die USA im Irak.

Im Mittelalter kämpften Condottieri für den, der besser zahlte. Heute kämpfen Söldner für Russland, die Emirate oder wechselnde Regime. Die Loyalität ist verhandelbar. Die Gewalt ist privatisiert.

Cyber-Raum als rechtsfreier Raum

Im Westfälischen System war klar, wer einen Angriff verübt hatte. Armeen marschierten über Grenzen. Attribution war trivial. Im Cyber-Raum ist Attribution das Kernproblem. Wer hat angegriffen? Ein Staat? Ein Krimineller? Ein Staat, der vorgibt, ein Krimineller zu sein?

2017, NotPetya. Ein Cyber-Angriff, getarnt als Ransomware, aber ohne zahlbares Lösegeld. Es war Zerstörung, getarnt als Kriminalität. Der Angriff begann in der Ukraine, verbreitete sich global und legte Maersk, Merck und FedEx lahm. Schäden in Milliardenhöhe. Die USA und Großbritannien machten Russland verantwortlich; Russland leugnete.

Im Westfälischen System konnte man Staaten zur Rechenschaft ziehen. Im Cyber-Raum ist nichts klar. Staaten operieren durch Proxies. Die Kategorien verschwimmen, und mit ihnen die Verantwortung. Wir kehren zur Unklarheit des Mittelalters zurück, aber die Waffe ist Code.

Der Weltraum als neues Schlachtfeld

Der Weltraumvertrag von 1967 war ein Versuch, das Westfälische System ins All zu verlängern: gemeinsames Erbe, keine Waffen, keine territoriale Aneignung, nur Staaten als Akteure. Das funktionierte, solange nur Staaten die Fähigkeit hatten, ins All zu gelangen. Das ist vorbei.

SpaceX startet mehr Raketen und kontrolliert mehr Satelliten als alle Staaten zusammen. Elon Musk ist kein Präsident, er ist CEO. Aber er kontrolliert die Infrastruktur, die Kriege entscheidet.

Starshield, die militarisierte Version, ist der nächste Schritt. Das Pentagon kauft Kapazität, aber es besitzt sie nicht. Es mietet sie von einem Unternehmen, das auch an andere verkaufen könnte. Staaten sind nicht mehr die einzigen Akteure. Sie sind Kunden in einem Markt, in dem private Unternehmen die Infrastruktur kontrollieren. Im Mittelalter kontrollierten Venedig und Genua die Handelswege; heute liegen die Handelswege im Orbit.

Fragmentierte Autorität in der Praxis

Die Konfrontation zwischen den USA und China findet nicht primär in der Taiwanstraße statt, sondern in den Minen der Demokratischen Republik Kongo, wo Kobalt abgebaut wird. China sichert sich durch Infrastruktur-Deals Schürfrechte und bindet Eliten durch Schulden. Die USA antworten mit Ressourcen-Diplomatie und Sanktionen.

Die kongolesische Regierung ist keine Akteurin in diesem Spiel; sie ist das Spielfeld. Ihre Souveränität ist nominal. Die tatsächliche Kontrolle liegt bei denen, die die Ressourcen kontrollieren, die Milizen bezahlen, die Infrastruktur bauen. Wir kehren zu mittelalterlichen Mustern zurück, aber die Akteure sind Staaten und Konzerne, und die Waffen sind Schulden und Lieferketten.

Gewalt als Dienstleistung

Im Westfälischen System hatte der Staat das Monopol auf legitime Gewalt. Jetzt wird Gewalt wieder zur Dienstleistung. Africa Corps in Afrika, Academi im Irak, private Sicherheitsfirmen weltweit. Das Pentagon lagert Logistik, Training und sogar Kampfeinsätze aus.

Die RAND-Analyse schreibt: „Eine perpetuell prekäre Unterstützung der Bevölkerung wird die Abhängigkeit des Militärs von Söldnern, unbemannten Systemen und Koalitionspartnern vertiefen.“ Die Bevölkerung lässt sich nicht mehr mobilisieren; der gesellschaftliche Zusammenhalt existiert nicht mehr. Also wird Gewalt zur Dienstleistung.

Die Implikation: was das bedeutet

Das Neomittelalter ist keine Dystopie, die kommt; es ist eine Realität, die bereits da ist. Wir leben in einer Welt, in der ein Unternehmer über Kriegsverläufe entscheidet, in der private Armeen Regime stützen und Minen bekommen, in der die Frage „Wer ist verantwortlich?“ keine klare Antwort mehr hat.

Das ist nicht das Ende des Staates. Staaten existieren noch, aber sie sind nicht mehr die einzigen Akteure, nicht mehr die Monopolisten der Gewalt. Sie sind Spieler in einem Spiel, in dem auch Unternehmen, Milizen und Hacker mitspielen.

Das Westfälische System basierte auf der Idee, dass Komplexität durch Zentralisierung beherrschbar ist. Das funktionierte, solange nur Staaten die Ressourcen hatten, Armeen aufzustellen und Infrastruktur zu kontrollieren.

Jetzt ist die Technologie dezentral. Satelliten kann man kaufen, Drohnen bauen, Verschlüsselung herunterladen. Die Fähigkeiten, die früher nur Staaten hatten, sind demokratisiert – nicht im Sinne von „für alle zugänglich“, sondern im Sinne von „nicht mehr monopolisiert“.

Und wenn das Monopol bricht, kehren wir zurück zu dem, was vorher war: fragmentierte Autorität, überlappende Souveränitäten, Gewalt als Dienstleistung. Das Neomittelalter ist nicht das Mittelalter, aber die Logik ist dieselbe: Wenn niemand das Monopol hat, verhandelt jeder. Wenn Autorität fragmentiert ist, ist Loyalität käuflich.

Die Frage, die bleibt

Die RAND-Autoren schließen nüchtern: „Anpassung kann durch intelligente Justierung erfolgen oder erzwungen werden, unwillig und ohne Verständnis. Ersteres könnte Gefahren minimieren und vielleicht einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil gegenüber weniger vorbereiteten Rivalen bringen. Letzteres riskiert katastrophale Fehleinschätzungen.“

Das ist die Wahl. Nicht ob das Neomittelalter kommt – es ist schon da. Die Wahl ist, ob wir es verstehen, die Muster lesen und uns anpassen, bevor wir gezwungen werden.

Im Mittelalter dauerte es Jahrhunderte, bis aus dem Chaos eine neue Ordnung entstand. Der Westfälische Frieden kam erst nach dreißig Jahren Krieg und totaler Erschöpfung. Wir haben nicht Jahrhunderte; die Technologie beschleunigt alles. Die Frage ist, ob wir eine neue Ordnung finden, bevor die alte vollständig kollabiert.

Siebzig Kilometer vor der Krim, im September 2022, traf ein Mann eine Entscheidung, die eine Schlacht verhinderte. Vielleicht verhinderte er eine Eskalation. Vielleicht verlängerte er einen Krieg. Wir wissen es nicht. Und das ist das Problem.

Im Westfälischen System wussten wir, wer verantwortlich war: Staaten. Im Neomittelalter wissen wir es nicht mehr. Solange wir nicht wissen, wer verantwortlich ist, können wir niemanden zur Rechenschaft ziehen.

In einer Welt, in der Autorität fragmentiert und Gewalt privatisiert ist, ist die gefährlichste Frage nicht „Wer hat Macht?“, sondern „Wer ist verantwortlich?“ Und wenn niemand verantwortlich ist, ist niemand zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist keine Freiheit. Nur Anarchie mit besserer Technologie.

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