FN 110: Die Gewinnfalle

Feldnotiz

Ein halbfertiges Feature geht live, die User lieben es. Intern wird es als Sieg gefeiert. Das Team lernt eine gefährliche Lektion: Glück und Geschwindigkeit kompensieren eine fehlende robuste Entwicklung.

Ein Gewinn, der auf einem Fehler der Gegenseite beruht, wird zum Glitch im eigenen Lernprozess. Ein kurzfristiger Erfolg maskiert und verstärkt eine langfristige Pathologie. Das System lernt die falsche Lektion. Der Sieg hat stille Kosten: Du verlierst die Fähigkeit zu unterscheiden, was zufällig funktioniert und was strategisch valide ist.

Im Schach wird das Muster Hoffnungsschach genannt: ein Zug, dessen Stärke aus der Hoffnung rührt, die Gegenseite möge die eigene Schwäche übersehen. Wer damit durchkommt, wiederholt es. Bis du auf eine kompetente Gegenseite triffst, die dein gesamtes Spiel als auf geborgter Zeit aufgebaut entlarvt.

Diese Pathologie ist fraktal. Sie skaliert von der Produktentwicklung über Geopolitik bis zur Personalentscheidung. Jede Entscheidung, die „funktioniert“ hat, wird zur Blaupause, selbst wenn sie einer kompetenten Analyse nicht standhalten würde. Der Rausch einer Auktion ist ein Echtzeit-Scan dieses Glitches: Bieter:innen, so auf den Zuschlag fixiert, dass am Ende eine:r den Preis für die kollektive Euphorie bezahlt. Zollkriege sind dasselbe Spiel in Zeitlupe. Jeder Zug scheint lokal rational, während das Gesamtsystem erodiert.

Hoffnungsschach ist gefährlich, weil es gelegentlich funktioniert. Es fühlt sich an wie Kompetenz, ist aber nur das Echo eines schwachen Signals in einem leeren Raum.

Sobald du das Muster als Glitch im Betriebssystem identifiziert hast, änderst du das Spiel. Du fängst an, Systeme zu bauen, die unter Druck an Stärke gewinnen. Du suchst stärkere Gegenseiten, um das eigene Spiel zu schärfen. Du stellst bessere Fragen:

War das brillant … oder waren wir nur früh dran? War es unsere Strategie … oder die Inkompetenz des Marktes? Haben wir gewonnen … oder hat nur niemand ernsthaft mitgespielt?

Hier trennt sich die fragile von der antifragilen Architektur. Eine fragile Architektur ist für das Schönwetter-Szenario optimiert und bricht unter dem Stress einer kompetenten Gegenseite. Eine antifragile Architektur wird durch den Angriff informiert. Sie verstoffwechselt den Fehler, die Attacke, die unerwartete Variable als essenziellen Datenstrom.

Erfolg manifestiert sich im Bau einer Maschine, die unter Beschuss lernt. Eine Architektur, die die Kompetenz der Gegenseite als gegebene Variable einkalkuliert und deren Einbruch in den eigenen Entscheidungszyklus erwartet.