FN 115: Die Menschen-Fassade
Feldnotiz
Unter denen, die im Maschinenraum von Organisationen arbeiten, kursiert ein Witz: Ein Manager schlägt die Bibel der „Operational Excellence“ auf. Kapitel „Flow erzeugen“? Kompliziert. „Nachfragegesteuert produzieren“? Unklar. „Verschwendung eliminieren“? „Aha!“, sagt der Manager. „Das verstehe ich. Das mag ich.“
Ein anderes Kapitel, irgendwo hinten versteckt, heißt „Respekt vor den Menschen“. Die meisten kommen nicht so weit.
Die Ironie ist, dass auf jeder Konferenz, in jedem Strategiepapier derselbe Satz fällt: „Am Ende geht es um die Menschen.“ Es ist die größte, am häufigsten wiederholte und folgenloseste Wahrheit der modernen Arbeitswelt. Eine Fassade. Ein Glitch
, der auf eine tiefere Entkopplung hinweist: Die deklarierte Absicht und die operative Realität des Systems laufen auseinander.
Das System sagt „Mensch“, meint aber „Ressource“.
Der Mechanismus der Selbstsabotage
Der Mechanismus dahinter ist keine Frage des schlechten Willens, sondern der Systemphysik. Der Glitch
wird durch eine Struktur aufrechterhalten, die Gregory Bateson die „Doppelschleife“ (Double Bind) nannte. Die Logik funktioniert so:
- Die primäre Anweisung: „Du sollst ehrlich und offen sein.“
- Die sekundäre, widersprüchliche Anweisung (implizit): „Ein Fehler könnte deine Karriere beeinträchtigen.“
- Die tertiäre Anweisung, die das System versiegelt: „Du darfst den Widerspruch zwischen Anweisung 1 und 2 nicht ansprechen.“
Das ist das organisationale Immunsystem bei der Arbeit. Der erklärte Vorsatz „Wir wollen eine offene Kultur“ wird von einer verborgenen, aber mächtigeren Gegen-Verpflichtung sabotiert: „Wir dürfen unter keinen Umständen die Kontrolle verlieren oder schlecht dastehen.“ Diese Immunity to Change
, wie Robert Kegan sie nennt, erklärt, warum Appelle, Trainings und Werte-Poster systematisch scheitern. Sie attackieren ein Symptom, während das Immunsystem die Ursache mit aller Macht schützt.
In diesem Zustand gefangen, ist Lähmung oder Theater die rationale Reaktion. Das ist die aktive Teilnahme an einem Status-Spiel mit hoher Volatilität. Jede Wortmeldung, jedes Schweigen ist ein Zug. Dein Spiel zielt darauf ab, in der unsichtbaren Hierarchie nicht abzusteigen – um nicht als inkompetent, illoyal oder, am schlimmsten, als naiv zu gelten. Dein Schweigen ist eine kalkulierte strategische Position in einem Spiel, das das System selbst erzwingt.
Fünf Arenen, in denen die Realität auf die Probe gestellt wird
Übliche Ratgeber bieten hier einen Katalog von „Lösungen“ an. Eine Falle, die den Glitch
nur verstärkt. Die folgenden Bereiche sind keine Checkliste, sondern Arenen. Fünf Terrains, in denen sich unweigerlich zeigt, ob ein System nur redet oder ob es praktiziert.
- Die Arena der Konversation: Finden Gespräche statt, um Synchronisations-Theater aufzuführen, oder um ein gemeinsames Lagebild der Realität zu erzeugen?
- Die Arena der Klarheit: Dienen Strukturen, Rollen und Prozesse der Orientierung, oder sind sie Waffen in den Händen von Gatekeepern?
- Die Arena des Lernens: Dient ein „Debriefing“ der Analyse von Fehlern, oder der rituellen Suche nach Schuldigen?
- Die Arena der Kultur: Ist „Kultur“ ein Poster an der Wand, oder ist sie die Summe der Verhaltensweisen, die vom Führungspersonal geduldet und belohnt werden?
- Die Arena der Absicht: Messen wir das, was für den Kunden zählt, oder messen wir Proxys, die gut auf Dashboards aussehen und Boni rechtfertigen?
Diese Arenen sind kein Zielkatalog, sondern ein Trainingsgelände. Die Qualität der Ausführung im Hier und Jetzt ersetzt das abstrakte Ziel („Wir sind jetzt eine lernende Organisation“). Die operative Frage wird: „Wie führen wir dieses eine Gespräch gerade?“
Zoom-In: die Physik der Konversation
Nehmen wir die erste Arena. Das Fehlen ehrlicher, produktiver Gespräche ist ein Symptom des organisationalen Immunsystems. Der Versuch, diesen Code durch Appelle („Seid doch mal ehrlich!“) zu ändern, ist wie der Versuch, einen Software-Bug durch Anschreien des Monitors zu beheben. Die Intervention muss auf einer tieferen Ebene ansetzen.
Ein Manöver: das „Left-Hand Column“-Protokoll von Argyris. Du nimmst ein Blatt Papier und ziehst eine Linie in der Mitte. Rechts schreibst du das Transkript eines typischen, schwierigen Gesprächs. Links schreibst du, was du währenddessen gedacht und gefühlt, aber nicht gesagt hast.
Diese linke Spalte ist reines Gold. Sie ist der Rohdatensatz der Systemphysik. Der Beweis für die Doppelschleife, die Immunantwort und das Status-Spiel. Die Arbeit fängt an, wenn ein Team den Mut aufbringt, seine linken Spalten als nachrichtendienstliches Material auf den Tisch zu legen. Das dabei entstehende Unbehagen ist der Datenstrom selbst.
Der Ausstieg aus dem Theater
Du kannst kurzfristige Ergebnisse mit Zuckerbrot und Peitsche erzielen. Das ist die Logik des endlichen Spiels. Die Regeln sind klar, die Spieler:innen bekannt, das Ziel ist der Sieg: der Bonus, die Beförderung, das Überleben der nächsten Re-Organisation.
Das Spiel deines Marktes, deiner Kund:innen und der Realität ist jedoch unendlich. Dein internes System ist durch die Doppelschleife darauf kalibriert, zwanghaft endliche Spiele zu spielen. Damit sabotiert es systematisch seine Fähigkeit, im unendlichen Spiel da draußen zu bestehen.
Die Arbeit in den fünf Arenen ist anstrengend, nicht-linear und hat keinen Endpunkt. Sie ist die bewusste Entscheidung, das unendliche Spiel zu spielen. Ein Spiel, dessen Ziel die Fortsetzung des Spiels auf einem höheren Niveau wird. Es ist der Weg, die Menschen-Fassade einzureißen und eine robuste Struktur dahinter zu bauen.