FN 35: Führung ist Mentalismus
Feldnotiz
Mark Zuckerberg will bei Meta „die Hitze hochdrehen“, um „Minderleister:innen“ auszusortieren. Elon Musk rät seinen Remote-Mitarbeiter:innen, „woanders so zu tun, als ob sie arbeiten“.
Diese Aussagen sind keine Ausrutscher. Sie sind Glitches
, die auf ein fehlerhaftes Betriebssystem hindeuten. Ein Führungsmodell, das auf Druck, Kontrolle und Misstrauen basiert, bewirkt systemisch das Gegenteil seiner Absicht. Talent flüchtet, Reibung steigt, und die eigentliche Arbeit wird durch ein Theater der Anwesenheit ersetzt.
Der fundamentale Fehler liegt in der Annahme, wir würden die Realität direkt wahrnehmen. Dass ein KPI eine objektive Wahrheit abbildet. Dass eine Anweisung exakt so dekodiert wird, wie sie gesendet wurde. Der Neurowissenschaftler Anil K. Seth hat die Physik des Systems beschrieben: „All unsere Wahrnehmungen sind aktive Konstruktionen, die besten Schätzungen des Gehirns über die Natur einer Welt, die für immer hinter einem sensorischen Schleier verborgen ist.“
Dein Lagebild ist keine Fotografie. Es ist eine kontrollierte Halluzination. Eine Projektion, gefiltert durch deine Biografie, deine Ziele und deine Ängste.
Führung transzendiert die Verwaltung von Ressourcen und wird zur operativen Gestaltung von Wahrnehmung.
Wenn das die Aufgabe ist, dann sind die Prinzipien wirksamer Führung nicht in Management-Lehrbüchern zu finden, sondern im Arsenal von Mentalist:innen. Der britische Künstler Derren Brown beschreibt sein Handwerk als eine Mischung aus „Magie, Suggestion, Psychologie, Fehlleitung und Showmanship“. Wer diese Mechanik nicht versteht, wird von ihr regiert. Wer sie beherrscht, kann sie nutzen, um Illusionen aufzulösen – nicht, um neue zu schaffen.
Das ist keine Psychologie, sondern operative Systemsteuerung. Die Prinzipien sind die einer Doktrin:
- Das Terrain lesen. Mentalist:innen scheinen Gedanken zu lesen, weil sie das „menschliche Terrain“ meisterhaft interpretieren: kleinste Signale, unausgesprochene Bedürfnisse, die verborgene Dynamik im Raum. Das ist deine Aufgabe in jedem Meeting. Nicht nur hören, was gesagt wird, sondern diagnostizieren, was gemeint ist. Welche Angst treibt die Wortwahl des Kollegen? Welches unsichtbare Loyalitätsversprechen erzeugt das Schweigen der Expertin? Wer das Terrain liest, interveniert bei den Ursachen, statt Symptome zu verwalten.
- Den Rahmen kontrollieren. Mentalist:innen lenken die Aufmerksamkeit und setzen Anker, die das Gegenüber später als eigene Ideen wahrnimmt. Das ist keine plumpe Hypnose. Es ist die Essenz der Auftragstaktik. Du diktierst nicht das „Wie“. Du gestaltest die Bedingungen so, dass die gewünschte Lösung zur einzig logischen, gefühlten Konsequenz für dein Team wird. Miyamoto Musashi nannte das im 17. Jahrhundert: „Den Feind zu deinen eigenen Soldaten machen.“
- Die eigene Wirkung kalibrieren. Souveränität ist nicht filterlose Spontanität. Das ist ein Irrtum, den sich nur Amateur:innen leisten. Souveränität ist die Fähigkeit, präzise die Rolle zu spielen, die die Situation erfordert. Wie der Stoiker Epictetus sagte: „Wo auch immer du dich befindest und unter welchen Umständen auch immer, liefere eine tadellose Vorstellung.“ Das ist kein Verrat am Selbst. Es ist die Anerkennung der Tatsache, dass Führung eine Performance ist. Deine Haltung, deine Sprache, dein Schweigen – alles sind Signale, die die Wahrnehmung des Systems formen. Du bist nicht nur Akteur:in. Du bist die Bühne.
Das ist keine Magie. Es ist eine Fertigkeit. Taiichi Ohno, der Architekt des Toyota-Produktionssystems, wusste das: „Management sollte nicht durch Arithmetik betrieben werden, sondern durch Ninjutsu, die Kunst der Unsichtbarkeit.“ In der Sprache der Systemtheorie ist das die direkte Intervention an den höchsten Hebelpunkten: den Zielen, Regeln und dem Paradigma eines Systems.
Der erste Schritt ist, die eigene Wahrnehmung zum Objekt der Untersuchung zu machen. Behandle deine erste Interpretation einer Situation nicht als Wahrheit, sondern als Hypothese. Frage dich:
- Welche Geschichte projiziere ich gerade auf diese Situation?
- Welche Daten ignoriere ich, weil sie nicht zu meiner Geschichte passen?
- Welche alternative, nützlichere Projektion ist hier möglich?
Wenn du deine Wahrnehmung als ein formbares Konstrukt erkennst, reagierst du nicht länger nur auf eine vorgefundene Realität. Es ist der Anfang, sie operativ zu gestalten.