FN 49: Auf das Pferd setzen, nicht auf den Reiter

Feldnotiz

Du beobachtest einen Konkurrenten, der Züge macht, die keinen Sinn ergeben. Seine Strategie wirkt irrational, seine Investitionen unlogisch. Und doch gewinnt er. Du analysierst den CEO, das Team, die Quartalsberichte – die Reiter:innen. Aber du übersiehst das, worauf sie reiten.

Wir sind darauf trainiert, das Spiel der Akteur:innen zu lesen. Das ist ein gefährlicher blinder Fleck. Denn oft gewinnen nicht die besten Reiter:innen, sondern die mit den besseren Pferden.

Dieses Pferd ist das unsichtbare Vehikel, die zugrundeliegende Technologie, das Betriebssystem, auf dem das ganze Spiel läuft. Es ist so selbstverständlich geworden, dass wir es nicht mehr als Variable wahrnehmen. Es ist einfach Teil des Terrains. Wer aber das Vehikel selbst versteht – seine Ökonomie, seine Grenzen, seine verborgene Logik –, kann das Terrain neu lesen und Züge machen, die für andere unmöglich scheinen.

Eine Analyse der Rolle des Pferdes in der Geschichte, wie sie etwa David Chaffetz in Raiders, Rulers, and Traders liefert, bietet ein scharfes Analyseinstrument für dieses Prinzip. Betrachtet durch diese Linse, ordnet sich die Geschichte neu. Ganze Narrative kollabieren:

Die Seidenstraße war die Pferdestraße. Seidenballen waren weniger Handelsgut als eine Art Währung. Der eigentliche Werttransfer waren Pferde, die von den Steppen nach China und Indien exportiert wurden. Die Ökonomie ganzer Reiche wie China (mit Seide und Keramik) oder Indien (mit Baumwolltextilien) war in Teilen eine Antwort auf die massive Handelsbilanzlücke, die durch den Import von Pferden entstand.

Die Mogulherrschaft war Pferde-Management. Begriffe für „Politik“ (siyasat) und „Regierung“ (riyasat) leiten sich im Urdu von „Reitkunst“ ab. Der „Steigbügel des Königs“ war eine Metapher für Herrschaft. Zeitweise flossen bis zu 50 % der Staatsausgaben der Moguln in die Pferdehaltung – ein ähnlicher Anteil wie die heutigen US-Gesundheitsausgaben. Der Niedergang des Reiches begann, als sie mit Afghanistan die Kontrolle über die Pferdeökonomie verloren.

Europas Aufstieg war die Ausnahme, nicht die Regel. Die Pferde-Kultur ist in Asien fundamentaler als in Europa. Während die asiatische Geschichte eine A-Handlung des Pferdes ist, bleibt sie in Europa eine B-Handlung, dominiert von Infanterie und Seemacht – den „Pferden der Wassersteppe“.

Was wir hier sehen, ist mehr als nur die Wichtigkeit eines Tieres. Wir beobachten das Wirken eines fundamentalen Prinzips. Das Pferd war nicht nur ein Transportmittel; es war ein mobiles Energie- und Logistiksystem. Eine Technologie, die eine grundlegende Ressource – das Gras der Steppen – in strategische Bewegung, in Macht, umwandelte.

Diese Erkenntnis ist der Sprung zu einer Beobachtung zweiter Ordnung.

Die Beobachtung erster Ordnung beantwortet nur das „Was“: Welche Plattform, welche Datenquelle, welcher regulatorische Rahmen ist das Pferd, auf dem du reitest? Die meisten bleiben bei dieser Aufzählung stehen.

Die entscheidende Frage zweiter Ordnung zielt auf das „Wie“: Was ist die unsichtbare „Pferdeökonomie“, die dieses Vehikel antreibt? Welches System wandelt eine grundlegende Ressource – Aufmerksamkeit, Daten, Vertrauen – in strategische Bewegung um? Und nach welchen Regeln funktioniert diese Umwandlung?

Wer diese Frage beantworten kann, reagiert nicht einfach länger auf die Züge der Konkurrenz. Das ist der Anfang, das Spielfeld selbst zu gestalten.

Wenn das Pferd die unsichtbare Hardware war, die Zivilisationen antrieb, was ist dann die unsichtbare Software, die unsere Wahrnehmung formt?

Auch hier finden wir Vehikel, die so tief in unserem Denken verankert sind, dass wir sie für die Realität selbst halten. Ein Paradebeispiel ist der Geist eines Giordano Bruno im 16. Jahrhundert, wie ihn Frances Yates in Giordano Bruno and the Hermetic Tradition seziert.

Bruno ist ein faszinierendes Paradox. Er postulierte ein unendliches Universum mit fernen Sonnen und Planeten – eine radikal moderne Idee. Doch er gelangte zu dieser Einsicht nicht durch empirische Beobachtung wie der nachfolgende Galileo. Sein Vehikel war ein prä-wissenschaftliches Betriebssystem: eine Mischung aus magischem Denken, Hermetik und Neoplatonismus. Er nutzte eine veraltete Software, um eine Prognose über die Zukunft zu erstellen, die schockierend präzise war.

Der Kontrast zu seinem Zeitgenossen Da Vinci ist lehrreich. Da Vincis Genie ist uns heute unmittelbar zugänglich. Seine Maschinen und Zeichnungen sprechen für sich. Bruno hingegen wirkt fremd. Sein Werk ist ohne das Verständnis seines hermetischen „Betriebssystems“ kaum zu decodieren.

Und hier liegt die eigentliche Provokation, die über die reine Ideengeschichte hinausgeht. Bruno und seine Zeitgenossen agierten innerhalb eines kognitiven Rahmens, der ihnen ebenso natürlich und allumfassend erschien, wie uns heute unser wissenschaftlich-rationaler Rahmen erscheint.

Die wahre Übung ist nicht, Brunos Geist zu bewundern, sondern die Kontingenz und die blinden Flecken des eigenen zu sezieren.

Welche deiner fundamentalen Annahmen über Rationalität, Wachstum und Effizienz ist das „Hermetische Denken“ von heute – im Moment noch mächtig, aber bereits dem Untergang geweiht? Und – viel wichtiger – welcher unfaire Vorteil liegt darin, diese Annahme als Erster über Bord zu werfen?

Giordano Bruno nutzte eine veraltende Software, um eine schockierend präzise Prognose über die Zukunft zu erstellen. Die eigentliche Provokation für uns ist: Welchen entscheidenden Einblick übersehen wir gerade, weil wir zu sehr von der Überlegenheit unserer eigenen Methoden überzeugt sind? Die Fähigkeit, das eigene Denken zum Objekt zu machen, ist kein intellektuelles Spiel. Es ist die Voraussetzung für strategische Relevanz in einer Welt, deren Betriebssystem sich gerade aktualisiert.