FN 53: Die lange Latenz des Verschwindens

Feldnotiz

Ein Urteil kann vollstreckt sein, lange bevor der Verurteilte fällt. In der Ökologie gibt es dafür einen Namen: Aussterbeschuld.

Das Prinzip beschreibt die Zeitverzögerung zwischen einer tödlichen Störung im Lebensraum einer Art und ihrem tatsächlichen, finalen Verschwinden. Die letzten Exemplare leben, pflanzen sich vielleicht sogar noch fort, doch ihr Schicksal ist durch vergangene Ereignisse bereits besiegelt. Sie sind ein Echo der Vergangenheit, das die Zukunft bereits verloren hat. Ein „Dead Clade Walking“.

Die Zeiträume dieser Latenz sind schwindelerregend. Für manche tropische Baumarten beträgt die Schuld 50 bis 400 Jahre. Bei europäischen Grasländern können es über 100 Jahre sein. Im Amazonas-Regenwald, so Schätzungen, stehen 80 bis 90 % der durch bisherige Zerstörung verursachten Aussterbeereignisse noch aus.

Wir betrachten eine Landschaft und sehen Leben. Doch was wir sehen, ist oft nur das Nachbild einer Welt, deren grundlegende Bedingungen für dieses Leben nicht mehr existieren. Die Schuld wird in der Stille abgetragen, Generation für Generation, bis das letzte Exemplar verschwindet und die Bilanz beglichen ist.

Dieses Prinzip ist kein rein biologisches. Es ist ein fundamentales Gesetz der Zeit und der Konsequenz, das mit unerbittlicher Neutralität operiert. Und es wirft eine beunruhigende Frage auf, wenn wir es auf seinen primären Verursacher anwenden: uns selbst.

Als Spezies haben wir gelernt, unsere Umwelt mit beispielloser Effizienz zu manipulieren. Wir formen Ökosysteme, verändern das Klima und schaffen künstliche Habitate, die wir „Organisationen“ oder „Märkte“ nennen. Dabei agieren wir oft unter der Annahme, dass die Konsequenzen unserer Handlungen unmittelbar und sichtbar sind. Dass grüne Zahlen in einer Bilanz ein verlässlicher Indikator für systemische Gesundheit sind.

Die Aussterbeschuld lehrt uns vor allem Demut vor der eigenen Wahrnehmung. Sie stellt die alles entscheidende Frage: Besitzen wir überhaupt noch die Fähigkeit, eine bereits vollstreckte Schuld zu erkennen?

Diese Frage verlagert den Fokus von den Symptomen „da draußen“ auf uns selbst als Beobachter:innen.

Woran erkennen wir, dass wir nicht selbst das letzte Exemplar einer aussterbenden Art sind – einer Art zu leben, zu denken, zu vertrauen? Blicken wir auf eine lebendige Landschaft oder auf das perfekt erhaltene Diorama unseres eigenen Verschwindens?