FN 63-2: Die Anatomie der Steuerung (Teil 2 von 2)
Feldnotiz
Die Prinzipien zur Kaperung eines einzelnen Verstandes dienen als Blaupause für ein weitaus größeres Modell. Der Angriff auf die Masse ist keine simple Skalierung, sondern eine Industrialisierung desselben Prozesses. Die grundlegenden Hebel bleiben die gleichen – Angst, Gier, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit –, doch die Werkzeuge werden von der persönlichen Interaktion auf die Ebene der systemischen Kriegsführung gehoben.
Das ist die Architektur des Massen-Mentizids – des organisierten Tötens des freien Denkens im Kollektiv.
Phase 1: Vorbereitung des Operationsgebiets
Kein System wird frontal erobert, solange es stabil ist. Die erste Phase ist daher die systematische Destabilisierung des Terrains. Die Absicht ist nicht die Überzeugung, sondern die Schaffung der Bedingungen, unter denen die Masse empfänglich für eine neue Ordnung wird.
- Die Erosion der Realität: Der Angriff fängt mit der Zerstörung des Vertrauens in die geteilte Wirklichkeit an. Jean Baudrillard beschrieb das als die Schaffung von Simulacra – Kopien ohne Original. Narrative werden so lange wiederholt, bis die Fiktion realer erscheint als die Realität selbst. Die Unterscheidung zwischen wahr und falsch wird nicht nur irrelevant, sie wird unmöglich.
- Die Anästhesie durch Trivialität und Aufregung: Parallel zum direkten Angriff erfolgt die subtile emotionale Überflutung. Neil Postman warnte vor einer Kultur, die sich zu Tode amüsiert. Im heutigen algorithmischen Terrain wird diese Doktrin erweitert: Extreme Belustigung und extreme Empörung sind zwei undifferenzierte Seiten derselben Medaille. Die Logik ist die gleiche: Ein de-kontextualisierter Stimulus, ob Belustigung oder Wut, zielt auf maximale emotionale Reaktion und minimales reflexives Denken. Das Ergebnis ist keine informierte Öffentlichkeit, sondern eine emotional erschöpfte und polarisierte Masse, deren Fähigkeit zur kohärenten Analyse systemisch untergraben wird.
- Die Kultivierung der Angst: Ein destabilisiertes System braucht ein Feindbild. Ob es der „innere Saboteur“ oder der „äußere Aggressor“ ist, spielt keine Rolle. Die konstante Beschwörung einer diffusen Bedrohung, was Meerloo die Spy Mania nannte, erzeugt einen chronischen Stresszustand. Das System wird in einen permanenten Verteidigungsmodus versetzt, in dem abweichende Meinungen nicht nur als falsch, sondern als Verrat gelten.
Phase 2: kognitive Kriegsführung
Sobald das Terrain vorbereitet ist, fängt der direkte Angriff auf das Betriebssystem der Masse an. Die moderne Militärdoktrin, wie sie auch von der NATO beschrieben wird, nennt das Cognitive Warfare. Das Ziel ist die Kolonisierung des Denkens.
- Logozid – Der Mord am Wort: Wie Meerloo analysierte, ist die Zerstörung der Sprache das primäre Werkzeug. Wörter werden ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und als leere Hüllen mit neuer, emotionaler Ladung versehen. „Frieden“ bedeutet Unterwerfung, „Freiheit“ bedeutet Gehorsam gegenüber der Partei, „Gerechtigkeit“ bedeutet Rache am Feindbild. Sprache wird von einem Werkzeug der Verständigung zu einer Waffe der Konditionierung.
- Die Herstellung von Zustimmung: Durch die dominante Kontrolle der primären Informationskanäle – Presse, Rundfunk, Bildungswesen – wird eine Verbocracy errichtet. Die Absicht ist die Herstellung einer Hegemonie des Narrativs, in der abweichende Informationen marginalisiert und als illegitim gebrandmarkt werden. Robert Cialdinis Prinzip des Social Proof wird hier zur Waffe: Wenn die offizielle Erzählung die einzige ist, die hörbar ist, und scheinbar alle sie wiederholen, wird die Akzeptanz für den Einzelnen zur rationalsten Überlebensstrategie. Der Widerstand gegen den Konsens erscheint nicht nur als sozial gefährlich, sondern als logisch absurd.
- Das Reinigungsritual: Die periodische Säuberung, der Schauprozess, ist kein Zeichen der Schwäche des Systems, sondern eine Demonstration seiner absoluten Macht. Die öffentliche Selbstbezichtigung der „Verräter:innen“ dient nicht der Wahrheitsfindung. Sie ist ein psychologisches Ritual, das die Masse zwingt, an der Zerstörung des Individuums teilzunehmen und so die eigene Loyalität durch die Verurteilung der Abweichler:innen zu bekräftigen. Jede:r im Publikum wird zum:zur Mitankläger:in und festigt so die eigene Unterwerfung.
Phase 3: die Zementierung der neuen Ordnung
Nach der Zerstörung der alten Realität muss die neue zementiert werden. Die finale Phase institutionalisiert die Kontrolle und macht eine Rückkehr zum alten Zustand unmöglich.
- Die Robotisierung des Menschen: Das Ziel ist der willenlose Automat, der nicht mehr denkt, sondern nur noch reagiert. Individualität wird zur systemischen Pathologie. Jede Handlung wird ritualisiert, jede Abweichung sanktioniert. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die berechenbar, kontrollierbar und frei von der unordentlichen Spontaneität menschlicher Interaktion ist.
- Die Auslöschung des Privaten: Das System duldet keine Räume, die sich seiner Kontrolle entziehen. Die Trennung zwischen privat und öffentlich wird aufgehoben. Die Familie wird von einer Schutzzone zu einer Überwachungseinheit. Freundschaften werden zu potenziellen Sicherheitsrisiken. Loyalität existiert nur noch in vertikaler Richtung – zum Staat, zur Partei, zum Führer. Jede horizontale Bindung zwischen Menschen ist eine potenzielle Verschwörung.
- Die Verwaltung des Terrors: Die letzte Stufe ist die Bürokratisierung der Gewalt. Der Terror verliert seinen chaotischen Charakter und wird zu einem verwalteten, fast klinischen Prozess. Die Gewalt wird entpersonalisiert und in Akten, Statistiken und Prozeduren übersetzt. Das erlaubt es den ausführenden Organen, monströse Taten mit der emotionalen Distanz von Buchhalter:innen zu vollziehen.
Die Verteidigung: vom Herdentier zur souveränen Zelle
Die Kenntnis dieser Architektur ist niederschmetternd. Sie legt die Zerbrechlichkeit kollektiver Vernunft offen und kann in einen tiefen Zynismus führen – die finale Falle, die den Widerstand im Keim erstickt.
Die einzig wirksame Abwehr ist der bewusste Akt, sich selbst zu einer souveränen Zelle zu entwickeln – fähig, die einströmenden Signale zu analysieren, ihre Absicht zu bewerten und unabhängig zu entscheiden, welche Bedeutung wir ihnen geben. Doch Souveränität ist keine Isolation. Der nächste Schritt ist die Vernetzung dieser Zellen zu resilienten, dezentralen Gemeinschaften, die auf Vertrauen und einer geteilten Verpflichtung zur Realität basieren.
Die Masse wird gesteuert, indem ihre Realität definiert wird. Die Freiheit fängt in dem Moment an, in dem du darauf bestehst, deine eigene zu kalibrieren – und sie mit jenen zu teilen, die dasselbe tun.
Dieser Text ist die zweite von zwei Feldnotizen zum Thema Anatomie der Steuerung.