FN 72-1: Die Sabotage der Fähigkeit (Teil 1 von 2)
Feldnotiz
Du jagst den falschen Zielen nach. Ein Blick in deinen internen Kompetenzkatalog offenbart ein Arsenal an Attributen: Resilienz, Empathie, Kreativität, Agilität. Das Vokabular ist modern, die Logik dahinter fossil.
Es ist der Versuch, die menschliche Psyche mit den Methoden des Industriezeitalters zu zerlegen. Wir definieren eine Kompetenz, setzen einen KPI dahinter und hoffen, einen komplexen inneren Zustand wie ein Software-Update installieren zu können. Das ist der Glitch
.
Die Jagd nach dem Skill ist die exakte Aktivität, die das Entstehen der Fähigkeit sabotiert.
Resilienz ist kein Skill, den du in einem zweitägigen Seminar erwirbst. Resilienz ist, was von einem System übrig bleibt, nachdem es durch eine echte Krise gegangen ist. Sie ist das Ergebnis der schmerzhaften Erkenntnis, die eigenen Wunden nicht nur zu verbinden, sondern sie als wertvolle Informationsquelle zu lesen. Eine Organisation, die Resilienz fordert, aber jeden produktiven Konflikt unterdrückt, produziert keine Resilienz. Sie produziert Fassaden und züchtet spröde Strukturen.
Kreativität ist keine Methode, die du an ein Whiteboard malst. Kreativität ist der unkontrollierbare Zustand, der in Räumen psychologischer Sicherheit und intellektueller Leere aufkeimt. Ein Umfeld, das jede Minute verplant und jede Abweichung als Risiko einstuft, erstickt sie systematisch. Was es bekommt, ist bestenfalls inkrementelle Optimierung, verpackt in bunten Post-its.
Empathie ist kein Kommunikations-Training. Empathie ist der Akt, die eigene Perspektive radikal zu verlassen. Sie entsteht durch die echte Konfrontation mit dem fundamental Anderen, nicht durch Rollenspiele im selben Konferenzraum mit denselben Kolleg:innen, die dieselben Boni jagen.
Das ist die Physik des Systems: Die meisten Initiativen zur „Skill-Entwicklung“ sind hochwirksame Abwehrmechanismen. Sie schützen das bestehende Betriebssystem vor der einzigartigen, unplanbaren und potenziell destabilisierenden Kraft, die ein fähiger Mensch darstellt. Sie managen das Symptom, um die Konfrontation mit der Ursache zu vermeiden.
Die relevante Frage ist daher nicht: „Wie installieren wir die richtigen Skills?“
Die operative Frage lautet: „Welche Rituale, Regeln und Tabus in unserem System verhindern aktiv, dass fähige, resiliente und kreative Akteur:innen überhaupt entstehen können – und wer genau profitiert davon, dass alles so bleibt?“
Dieser Text ist die erste von zwei Feldnotizen zum Thema Interne Sabotage.