FN 76: Die drei toten Tugenden

Feldnotiz

Fokus, Verantwortlichkeit und eine klare strategische Ausrichtung gelten als die heilige Dreifaltigkeit des modernen Managements. Drei Tugenden, beschworen in jedem Strategie-Meeting, eingemeißelt in jede Balanced Scorecard. Und drei Leichen, die in den Korridoren der meisten Organisationen unbemerkt verwesen.

Du kennst das Spiel: Der Ruf nach Fokus führt zu einer neuen Liste priorisierter Projekte, während die alten als Zombie-Initiativen weiterlaufen. Der Appell an Verantwortlichkeit mündet in einem zirkulären Verweis auf andere Abteilungen, sobald erster Widerstand auftaucht. Und die glänzend präsentierte Strategie entpuppt sich als Dead Letter Box – ein Dokument, das offiziell existiert, aber nie wieder geöffnet wird.

Das vermeintliche Scheitern der Disziplin ist in Wahrheit ein Glitch im Betriebssystem.

Dein System ist nicht darauf optimiert, diese Tugenden zu leben. Es ist darauf optimiert, Energie zu erhalten und Bedrohungen seiner internen Logik abzuwehren. In diesem Kontext werden Fokus, Verantwortlichkeit und Strategie von operativen Zielen zu einer Immunreaktion auf eine vermeintliche Infektion.

Fokus als Bedrohung

Echter Fokus bedeutet Nein zu sagen. Nicht nur zu schlechten Ideen, sondern auch zu guten, die nicht zur Kernabsicht passen. Das erzeugt internen Schmerz und Statusverlust. Das System wehrt sich, indem es Fokus als performativen Akt inszeniert: Es wird eine Fokus-Liste erstellt, die das Gewissen beruhigt, während im Schatten alles weiterläuft wie bisher. Die Liste dient als Alibi für die Abwesenheit von Fokus.

Verantwortlichkeit als Waffe

In einem System mit geringer psychologischer Sicherheit ist Verantwortlichkeit keine Tugend, sondern eine latente Gefahr. Sie wird zum Synonym für die Frage „Wer ist schuld, wenn es schiefgeht?“. Das System reagiert mit ausgeklügelter Abwehr: diffuse Zuständigkeiten, CC-Exzesse und Meeting-Rituale, deren einziger Zweck die kollektive Diffusion von Verantwortung ist.

Strategie als Ritual

Eine echte Strategie ist eine Wette auf die Zukunft. Sie erzwingt bestimmte Handlungen und verbietet andere. Sie schafft Klarheit und damit auch eine klare Angriffsfläche. Das auf Stabilität optimierte System neutralisiert diese Bedrohung, indem es die Strategie in eine unverbindliche Abstraktion verwandelt – inspirierend, aber operativ folgenlos.

Die Intervention ist eine Verschiebung der Frage.

Statt zu fragen: „Wie installieren wir mehr Fokus?“, lautet die Untersuchung: „Welche verborgene Loyalität verhindert Fokus gerade jetzt?“.

Statt Schuldige für mangelnde Verantwortlichkeit zu jagen, wird das System dekodiert, das Verantwortungsdiffusion belohnt.

Versuche nicht, die drei Tugenden wiederbeleben zu wollen. Fange damit an, die Physik deines Systems zu lesen, die sie systematisch neutralisiert.

Das ist der Eingang.