FN 96: Das Medium ist das Manöver
Feldnotiz
Strategische Klarheit entsteht durch Orientierung an der Realität.
Deine Strategie erodiert nicht im großen Knall, sondern im leisen Rauschen der Selbstbestätigung. Die Meetings sind effizient, die Dashboards sind grün, der Konsens ist erdrückend. Genau hier liegt der Glitch
: Irgendwo hat sich unbemerkt die Feedback-Schleife geschlossen. Dein System hat aufgehört, die Realität zu analysieren. Es validiert nur noch den eigenen Zustand.
Das ist keine Stagnation, sondern aktive Verzerrung. Ein Zustand, den John Boyd als Incestuous Amplification bezeichnete.
Um diesen Glitch
zu verstehen, betrachten wir Marshall McLuhans berühmte Einsicht durch die Linse von Neil Postman: Das Medium, durch das wir kommunizieren, ist kein neutraler Behälter. Es formt die Art, wie wir Wahrheit definieren. Es wird zu einer Metapher für die Realität.
Das Medium deiner Organisation ist nicht das Fernsehen; es ist das Ökosystem aus Dashboards, KPIs, Reports und Ritualen. Dieses Medium hat eine Grammatik, und sie bevorzugt eine bestimmte Form von Wahrheit: quantifizierbar, fragmentiert, kontextlos. Komplexe, narrative oder widersprüchliche Realitäten, die sich nicht in eine Zelle pressen lassen, werden unsichtbar. Das System erzeugt eine Endlosschleife aus „Fakten“, die keine Fragen beantworten, die du nicht schon vorher gestellt hast.
Das ist die Welt von „Now … this“: Der Marktanteil sinkt, und jetzt … die Klickrate auf der neuen Landingpage. Die Mitarbeiterzufriedenheit ist im Keller, und jetzt … der Output von Feature-Team A. Eine Serie isolierter Momentaufnahmen, losgelöst von Ursache, Wirkung und Konsequenz. Postman nannte das Disinformation: keine Lüge, sondern eine Flut irrelevanter Wahrheit, die den Blick auf das Wesentliche verstellt.
Das ist mehr als ein Kommunikationsproblem. Es ist die systematische Korruption des entscheidenden Elements jeder strategischen Handlung: der Orientierung.
Die Orientierung ist das Herz von Boyds OODA-Loop – die Linse, durch die wir beobachten, entscheiden und handeln. Wenn das informationelle Medium einer Organisation nur noch bestätigenden, dekontextualisierten Input liefert, entkoppelt sich ihre Orientierung von der Realität. Der Loop blockiert. Die Fähigkeit, jene abrupten, unerwarteten Manöver – die „asymmetrischen schnellen Transienten“ – auszuführen, die im Wettbewerb den entscheidenden Vorteil verschaffen, geht verloren.
Ein solches System kann nicht mehr agieren, nur noch reagieren. Es verliert, was Chet Richards in „Certain to Win“ als Essenz von Boyds Lehre beschreibt: die Fähigkeit, den Gegner zu formen, indem man schneller operiert, als dieser die Realität verarbeiten kann. Stattdessen wird die Organisation selbst geformt – von einer Realität, die sie nicht mehr korrekt wahrnimmt.
Die Verteidigung gegen diesen kognitiven Kollaps ist kein besseres Dashboard. Sie ist eine Kultur, die bewusst für das Manöver im Ungewissen konstruiert wurde. Ihr Fundament ruht auf zwei Säulen, die Richards aus Boyds Arbeit destilliert:
- Einheit: Ein tiefes, durch gemeinsame Erfahrung geschmiedetes Vertrauen, das implizite Kommunikation unter Hochdruck ermöglicht. Es ist die Bandbreite, auf der die unbequemen, kontextreichen Wahrheiten fließen, die formale Systeme herausfiltern.
- Fingerspitzengefühl: Die intuitive Kompetenz, Muster im Rauschen zu erkennen und die Physik eines Systems zu „fühlen“. Es ist die Fähigkeit von Führungskräften, eine Dissonanz zwischen dem Lagebild der Reports und der Realität im Feld zu spüren.
Diese Kultur schafft die Voraussetzung für Agency
und Alignment
, weil sie die Integrität der Orientierung schützt. Sie behandelt Dissonanz als wertvollstes Signal: als Indikator dafür, dass der Loop noch offen ist.
Der finale Glitch
ist der Verlust der Fähigkeit zu erkennen, dass die Landkarte, auf deren Basis du entscheidest, nur noch sich selbst abbildet. Das ist die Essenz der huxleyschen Warnung, die Postman formulierte: Wir werden entmachtet, indem wir uns in die beruhigende Kohärenz unserer eigenen Echokammer verlieben und uns so in die strategische Bedeutungslosigkeit amüsieren.