PR 40: Protokoll des lokalen Gradienten

Protokoll.

Die Endlosschleife auf YouTube, der Podcast des nächsten Titanen, das 800-Seiten-Manifest des nächsten Gurus. Das ist keine Bildung. Es ist intellektuelle Masturbation zur Simulation von Fortschritt, aber das Manöver ist perfider. Es ist die Munitionsbeschaffung für die inneren Ideolog:innen, die nach einer eleganten Rechtfertigung für die eigene Stagnation suchen.

Der Glitch extrahiert aus dem medialen Simulacrum des Idols ein vermeintlich universelles Gesetz – oft eine krude Version des „ökonomischen Prinzips“. Diese eine Regel wird zum Filter für die Realität, zu einer Waffe, mit der alles abgewertet wird, was nicht in das rigide Schema passt. Akteur:innen werden zu Missionar:innen einer geliehenen Weltanschauung.

Die operative Pathologie dieses Manövers ist die totale Blindheit für die eigenen, realen Antriebe. Ideolog:innen, die die Welt durch ihre scharfe, ökonomische Linse zu betrachten glauben, sind in Wahrheit vollständig der mimetischen Ansteckung erlegen. Sie bemerken nicht, dass ihr eigenes Handeln nicht von ihrer gepredigten Logik, sondern von Status-Angst und dem Herdentrieb diktiert wird. Ein klassisches Symptom: Ein:e Akteur:in, monatelang gegen eine Technologie wetternd, implementiert sie plötzlich über Nacht. Der wahre Grund ist der unerträgliche Druck, den Anschluss zu verlieren. Die offizielle Erklärung ist jedoch eine Meisterleistung der post-hoc-Rationalisierung: Die Kapitulation wird als visionärer strategischer Geniestreich verkauft. Das ist der Eigenschutz des Egos, das seine Fassade als souveräner Operator um jeden Preis aufrechterhalten muss.

Die systemische Konsequenz ist ein Zustand perfekter, rationalisierter Dissonanz. Es entstehen Akteur:innen, die ein Bekenntnis zu Werten und Intelligenz performen, während sie Geländewagen fahren und ihre KI-Geschäftsmodelle auf dem Energieverbrauch von ganzen Staaten und der fragwürdigen Aneignung von Inhalten basieren. Der klaffende Graben zwischen dem Gesagten und dem Getanen wird nicht als Heuchelei empfunden, sondern als Zeichen von erleuchtetem Pragmatismus umgedeutet. In Wahrheit ist es die finale Kapitulation. Die Inkohärenz wird nicht mehr als Fehler im System wahrgenommen, sondern als dessen höchste Leistungsstufe: die Fähigkeit, widersprüchliche Realitäten gleichzeitig zu monetarisieren.

Der Operator seziert die kognitive Pathologie dieses Manövers:

  1. Informationshygiene: Du wertest dekontextualisierte Propaganda aus. Die „Prinzipien“ eines Ray Dalio zum Beispiel sind, wie bei Baudrillard beschrieben, ein Zeichen, das seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Sie sind die geglättete Konsequenz aus einem Spiel, dessen Regeln und Startbedingungen du nicht kennst, nicht dessen Ursache. Du verwechselst die Landkarte der Marketingabteilung mit dem Terrain.
  2. Systemische Blindheit: Du versuchst, wie bei James C. Scott beschrieben, mit der Logik der Zentralplaner:innen zu operieren. Du willst eine abstrakte, universelle Regel auf dein System anwenden. Das negiert systematisch das entscheidende lokale, praktische Wissen (Mētis), das in deinem Kontext bereits vorhanden ist – die ungeschriebenen Regeln, die informellen Netzwerke, die tatsächlichen Engpässe.
  3. Resonanzverlust: Die Beziehung zum Simulacrum ist, wie Hartmut Rosa es nennen würde, eine „stumme Weltachse“. Sie ist tot. Sie antwortet nicht. Sie führt zur Entfremdung, weil du dein Leben mit eigenen Simulakren und Simulationen füllst, die du für Resonanz hältst.

Das Gegenprotokoll ist die radikale Neuausrichtung auf den lokalen Gradienten: die schonungslose Diagnose der eigenen und fremden Heuchelei nicht als Endpunkt der Analyse, sondern als Ausgangspunkt für die Gewinnung überlegener Information. Die operative Frage kalibriert sich neu: Welche Akteur:innen in deinem unmittelbaren Operationsgebiet erzeugen ein Signal, auf das du in Echtzeit reagieren kannst?

Diese Akteur:innen sind kein Idol. Sie sind ein Pacer – ein beweglicher Datenpunkt mit hoher Auflösung. Sie sind keine Rival:innen in einem Nullsummenspiel um Status. Sie sind ein Informations-Asset, dessen Analyse dir einen Vorteil verschafft: die Fähigkeit, aus der zweiten Reihe zu lernen und die Fehler anderer nicht selbst machen zu müssen. Die Analyse des Pacers ist das direkte Gegenmittel zur ideologischen Verblendung. Sie ist granular, kontextspezifisch und zwingt zur Auseinandersetzung mit der unsauberen, pragmatischen Realität.

  • Welches Betriebssystem, welche unsauberen, pragmatischen Manöver (Mētis) erzeugen das beobachtbare Momentum des Pacers, jenseits seiner eigenen Erzählung?
  • Welche Elemente seines Protokolls sind in dein eigenes System integrierbar, um die Aktivierungsenergie für den nächsten Zug zu senken, ohne seine Identität oder Ideologie zu kopieren?
  • Wo klafft die Lücke zwischen seinem Reden und seinem Handeln? Diese Dissonanzen sind die wertvollsten Daten. Sie zeigen die Sollbruchstellen seiner Strategie und die Punkte, an denen sein eigenes System Energie durch interne Reibung verliert.

Der Gipfel ist ein Vektor für die grobe Ausrichtung des Kompasses, nicht mehr. Der Glitch macht daraus eine Religion. Er fixiert das Ziel, um sich mit ihm zu identifizieren, und verwechselt die geglättete Biografie des Idols mit einer operativen Anleitung. Das ist die Falle: Die Identifikation mit dem Endpunkt wird zur perfekten Lizenz, den eigenen, schmutzigen Weg gar nicht erst anzutreten.

Das Operationsgebiet ist immer nur die nächste Kurve.