I
Der Morgen kroch grau über die Ruinen von Halberstadt. Mika saß auf dem Dach ihrer Behausung und beobachtete, wie die Sonne versuchte, durch die Wolkendecke zu brechen. Unter ihr: die Siedlung. Vierzig Familien, zusammengepfercht in dem, was einmal eine Straße gewesen war.
„Mika!“ Ihre Großmutter rief von unten. „Frühstück!“
Dosenbohnen. Wieder. Mika kletterte hinunter.
Großmutter Elsa saß am Feuer, rührte in dem Topf. Ihre Augen waren milchig, aber sie sah mehr als die meisten.
„Erzähl mir von den Ursprünglichen“, sagte Mika.
Elsa lächelte. „Wieder? Du kennst die Geschichte.“
„Ich will sie hören.“
„Die Ursprünglichen“, begann Elsa mit der Stimme, die sie für heilige Dinge reservierte, „lebten vor der Zeit. Vor dem Erwachen. Sie konnten Dinge, die wir nicht verstehen. Sie bauten Maschinen, die dachten. Sie sprachen über die Luft. Sie …“ Sie stockte. „Sie konnten Zeichen machen, die Bedeutung hatten.“
„Zeichen?“
„Symbole. Muster. Wenn man sie ansah, wusste man, was sie bedeuteten. Ohne dass jemand es einem sagen musste.“ Elsa schüttelte den Kopf. „Mein Urgroßvater konnte es noch. Aber das Wissen ging verloren.“
„Und sie kommen zurück?“
Elsa zuckte mit den Schultern. „Die Legende sagt: Alle paar Jahrzehnte erklingt ein Ton. Aus einem Gebäude von vor der Zeit. Das ist ihr Zeichen. Wer es findet, findet die Ursprünglichen.“
Mika hatte diese Geschichte hundertmal gehört. Sie glaubte daran, wie Kinder an Dinge glauben, die größer sind als sie selbst.
II
Tam, Mikas jüngerer Bruder, glaubte nicht an die Ursprünglichen. Er glaubte an das, was er sehen konnte: Rost, Schutt, Hunger.
„Das sind Märchen“, sagte er, während er sein Fladenbrot in die Bohnen tunkte. „Die Erwachsenen erzählen sie, damit wir Hoffnung haben.“
„Aber Großmutter sagt—“
„Großmutter ist alt. Sie erinnert sich an Dinge, die nie passiert sind.“
Mika wollte widersprechen, aber dann geschah es.
Der Ton.
Tief. So tief, dass sie ihn mehr in ihrer Brust spürte als hörte. Er rollte über die Siedlung, ließ Töpfe klirren, schickte Vögel kreischend in die Luft.
Tam ließ sein Brot fallen.
Die ganze Siedlung erstarrte. Dann: Chaos. Menschen rannten aus ihren Behausungen, schrien, deuteten in verschiedene Richtungen.
„Die Ursprünglichen!“, brüllte jemand.
Großmutter Elsa stand auf, langsam, als hätte sie darauf gewartet. „Ich habe es euch gesagt!“
III
Der Ältestenrat formierte sich innerhalb von Minuten. Meister Hendrik, der sich selbst zum Gelehrten ernannt hatte, übernahm das Kommando.
„Wir müssen einen Plan machen“, verkündete er. „Wir müssen vorbereitet sein. Wir müssen—“
„Wir müssen hingehen“, unterbrach ihn Mikas Vater. „Jetzt. Bevor der Ton vergeht.“
„Zu gefährlich. Wir wissen nicht, was uns erwartet.“
„Genau deshalb müssen wir gehen!“
Die Diskussion würde Stunden dauern. Das wusste Mika.
Sie fand Tam hinter ihrer Behausung. „Wir gehen“, sagte sie.
„Bist du verrückt?“
„Die Erwachsenen werden ewig diskutieren. Bis dahin ist es zu spät.“
Tam starrte sie an. Dann, langsam, nickte er. „Lass uns Jona holen.“
Jona war Mikas beste Freundin, seit sie denken konnte. Sie wohnte drei Häuser weiter, in einer Behausung, die aus alten Türen gebaut war.
„Ich komme mit“, sagte sie, ohne zu zögern.
Sie schlichen sich aus der Siedlung, während die Erwachsenen noch stritten. Die Richtung war klar – der Ton hatte von Norden geklungen.
Unterwegs schloss sich ihnen Ben an. Er sprach nie – nicht seit dem Winter, als seine Eltern nicht zurückgekehrt waren. Aber er folgte ihnen, und das war genug.
IV
Sie marschierten durch die tote Zone. Vorbei an Skeletten von Häusern. Vorbei an rostenden Metallbäumen – so nannten sie die Masten. Vorbei an einem Feld von Glassplittern, das in der Sonne funkelte.
„Wie weit noch?“, fragte Tam nach einer Stunde.
„Keine Ahnung“, sagte Mika.
„Was, wenn wir es nicht finden?“
„Wir finden es.“
Jona ging voraus, ihre Schritte sicher. „Dort“, sagte sie plötzlich und deutete.
Am Horizont: ein Turm. Spitz, hoch, anders als alles, was sie kannten.
Sie rannten.
V
Das Gebäude war gewaltig. Massiv. Aus echten Steinen gebaut, nicht aus Schutt. Der Turm ragte in den Himmel, gekrönt von einem metallenen Symbol – zwei Balken, die sich kreuzten.
„Eine Festung“, flüsterte Tam ehrfürchtig.
Die Tür war aus Holz, dick wie Mikas Arm. Sie stand einen Spalt offen.
„Sollen wir?“, fragte Jona.
Mika schob die Tür auf. Sie knarrte, als würde sie protestieren.
Drinnen: Dunkelheit. Dann, als ihre Augen sich anpassten: ein riesiger Raum. Hohe Decken. Reihen von Holzbänken, alle in dieselbe Richtung weisend. Fenster, durch die Licht in Staubsäulen fiel.
Und dort, an der Wand: die Maschine.
„Was ist das?“, hauchte Tam.
Es war gewaltig. Rohre, hunderte, manche dick wie Baumstämme, andere dünn wie Finger. Sie ragten von der Wand bis zur Decke. Davor: ein Tisch mit schwarzen und weißen Platten.
„Das muss es sein“, sagte Mika. „Die Maschine der Ursprünglichen!“
VI
Sie erkundeten stundenlang.
Ben fand Hebel unter dem Plattentisch. Er drückte vorsichtig. Nichts geschah.
Jona entdeckte Blätter an der Wand – vergilbtes Material mit schwarzen Punkten und Linien. „Was ist das?“
„Vielleicht Karten?“, schlug Tam vor. „Oder Anleitungen?“
Mika untersuchte die Rohre. Manche waren offen, manche verschlossen. Sie versuchte, ein Muster zu erkennen. Es gab keins.
„Hier ist etwas!“, rief Tam.
Er hatte einen Raum gefunden, klein, hinter dem großen Saal. Drinnen: mehr Maschinen. Kästen mit Knöpfen. Drähte. Alles tot, kalt, sinnlos.
„Was machen die Ursprünglichen mit all dem?“, fragte Jona.
„Keine Ahnung“, sagte Mika.
Sie kehrten zum großen Raum zurück. Standen vor der Maschine. Warteten.
Nichts geschah.
„Vielleicht müssen wir etwas tun?“, sagte Tam. „Einen Hebel ziehen? Eine Platte drücken?“
Ben versuchte es. Drückte auf die schwarzen und weißen Platten. Manche gaben nach, manche nicht. Kein Ton.
„Es ist kaputt“, sagte Jona schließlich.
„Oder wir machen es falsch“, sagte Tam.
„Oder“, sagte Mika leise, „es gibt nichts zu verstehen.“
VII
Sie saßen auf den Holzbänken. Die Sonne wanderte über den Himmel, die Lichtsäulen verschoben sich.
„Was jetzt?“, fragte Tam.
Mika starrte auf die Maschine. Sie hatte erwartet … was? Eine Botschaft? Eine Erscheinung? Die Ursprünglichen selbst?
Stattdessen: nur eine alte Maschine in einem alten Gebäude.
„Vielleicht“, sagte Jona vorsichtig, „vielleicht gibt es keine Ursprünglichen. Vielleicht gab es sie nie.“
„Der Ton—“
„Der Ton kam von der Maschine. Irgendwie. Aber das heißt nicht, dass jemand ihn geschickt hat.“
Tam schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein. Die Legenden—“
„Sind vielleicht nur Geschichten“, sagte Mika. Die Worte schmeckten bitter.
Sie hatte ihr ganzes Leben an die Ursprünglichen geglaubt. An etwas Größeres. An die Hoffnung, dass die Welt einmal mehr gewesen war – und wieder mehr sein könnte.
Aber hier, in diesem leeren Raum, fühlte sich diese Hoffnung dumm an.
„Wir sollten zurückgehen“, sagte sie schließlich.
VIII
Sie verließen das Gebäude, als die Sonne tief stand. Niemand sprach.
Die Reise zurück war länger. Oder fühlte sich länger an.
„Was sagen wir den anderen?“, fragte Tam schließlich.
„Die Wahrheit“, sagte Mika. „Dass wir nichts gefunden haben.“
„Sie werden enttäuscht sein.“
„Wir sind auch enttäuscht.“
Jona ging neben ihr, ihre Hand in Mikas. „Vielleicht ist das okay“, sagte sie leise. „Vielleicht müssen wir nicht auf die Ursprünglichen warten. Vielleicht müssen wir selbst etwas aufbauen.“
Mika nickte. Es fühlte sich nicht wie Trost an. Aber vielleicht war es Wahrheit.
Ben, der nie sprach, summte leise. Ein Ton, tief und lang. Fast wie die Maschine.
Sie gingen weiter. Vier Kinder in einer toten Welt. Aber sie gingen.
Epilog
Das Gebäude stand still in der Dämmerung.
Drinnen, im großen Saal, fing die Maschine wieder an zu summen. Langsam. So langsam, dass es kaum hörbar war. Ein Akkord, der sich über Monate erstreckte. Ein Ton, der Jahre dauern würde.
An der Wand, neben der Maschine, hing eine Metalltafel.
Darauf, in klaren, präzisen Buchstaben:
ORGAN²/ASLSP
John Cage (1912-1992)
Aufführungsdauer: 639 Jahre
Begonnen: 5. September 2001
Ende.
Möchtest du privat kommentieren? Schreib mir.