I. Entanglement

Das Labor roch nach Maschinenöl und dem süßlichen Ozon überhitzter Elektronik. Der Duft gescheiterter Experimente.

Maya Chen starrte auf den Willow-Chip, nicht größer als eine Briefmarke, suspendiert in seinem Kryostat bei 15 Millikelvin über dem absoluten Nullpunkt. Draußen, jenseits der magnetisch abgeschirmten Wände, tickerte der Bitcoin-Kurs bei 847.000 Dollar. Drinnen, in der quantenmechanischen Stille, existierten alle möglichen Preise gleichzeitig.

„Satoshi's Shield“, murmelte sie. Die Phrase hatte sich in den Quanten-Discord-Channels festgesetzt wie ein Mem-Virus. Über 930 Milliarden Dollar in verlorenen Wallets, geschützt nur durch eine Kryptographie, die 2009 unzerbrechlich schien. P2PKH-Adressen. Exponierte Public Keys. Eine Schatzkarte, geschrieben in ECDSA-Signaturen.

Der Bildschirm flackerte:

QUANTUM ECHO INITIATED
Timeline Probability: 0.73
Collapse Vector: UNDEFINED

Maya hatte die Quantum-Echo-Algorithmen selbst geschrieben, eine Verschränkung von Googles Arbeit mit etwas, das sie in einem obskuren chinesischen Paper gefunden hatte. Der Code konnte mögliche Zukünfte berechnen, Wahrscheinlichkeitswolken, die erst beim Beobachten kollabierten. Quanteninterferenz, um Wahrscheinlichkeitsverteilungen möglicher Marktereignisse zu berechnen. Keine Vorhersagen, nur statistische Schatten dessen, was sein könnte.

Sie erinnerte sich an 2011. Damals war sie erst neun Jahre alt gewesen, hatte fasziniert zugeschaut, wie ihr älterer Bruder Bitcoin auf seiner GeForce GTX 580 schürfte. Die bunten Grafiken auf dem Monitor? Für sie damals wie ein Videospiel. Niemand ahnte, dass sie gerade die Grundsteine für ein neues Manhattan Project legten.

Flashback-Interferenz: Satoshi Nakamotos letzte Nachricht, 23. April 2011: „I've moved on to other things.“

Die Wallets verstummten.

1.1 Millionen Bitcoin, eingefroren in der Zeit wie Insekten in Bernstein. Bei heutigen Preisen fast eine Billion Dollar.

II. Superposition

Der Willow summte bei 4.2 Gigahertz, seine 105 Qubits tanzten zwischen |0⟩ und |1⟩, zwischen Sein und Nicht-Sein. Maya spürte die Vibration in ihren Augäpfeln. Die elektromagnetischen Felder waren so stark, dass sie Kopfschmerzen verursachten.

Sie kannte die Schätzungen auswendig: 317 Millionen physische Qubits, um ECDSA in einer Stunde zu knacken. 13 Millionen für einen ganzen Tag. 1.500 fehlerkorrigierte logische Qubits minimum. Jede Verdopplung der Qubit-Anzahl halbierte die Berechnungszeit, aber die Grundanforderung blieb astronomisch. Die Zahlen hingen wie eine Drohung über dem Labor.

Maya hatte Zugang zu etwas, das die Presse „Projekt Cassandra" nannte. Eine Kollaboration zwischen drei Start-Ups und einer Abteilung des Verteidigungsministeriums, die offiziell nicht existierte.

„Die Kleinen zuerst“, hatte ihr Vorgesetzter gesagt. Dr. Krishnamurthy, ein Mann, der aussah, als hätte er seit Y2K nicht geschlafen. „Wallets unter fünfzig. Testläufe. Dann arbeiten wir uns hoch.“

Maya öffnete ein neues Terminal:

> quantum_shor_simulation --target 1A1zP1eP5QGefi2DMPTfTL5SLmv7DivfNa
> // Satoshi's Genesis Address
> // Current Value: $58,839,560
>
> SYSTEM: Calculating quantum requirements...
> SYSTEM: Physical qubits available: 105
> SYSTEM: After error correction: 0 logical qubits
> SYSTEM: Current technology: Infant crying at the moon
> SYSTEM: You need 1,500 logical qubits
> SYSTEM: You are 1,500,000 times too weak
> SYSTEM: Try again in 2045
> SYSTEM: Estimated breakthrough: 2045 ± heat death

2045, wenn die Ozeane bereits die Serverfarmen verschluckt hätten. Wenn Bitcoin entweder bei hundert Millionen oder bei null stünde.

Sie scrollte durch die Bitcoin-Rich-List. Tausende Adressen, die seit über einem Jahrzehnt schliefen. Digitale Pharaonengräber. Manche glaubten, ihre Besitzer seien tot. Andere spekulierten wilder: Zeitreisende. KIs. Satoshi selbst, der auf den richtigen Moment wartete.

Quantum Echo Burst:

Timeline Alpha-7: 15. März 2032, 03:47 UTC
Bitcoin-Kurs: $12.7M
Erste P2PKH-Wallet geknackt
Panik-Fork in 6 Stunden
Globaler Finanzmarkt: -47%
Wahrscheinlichkeit: Homöopathisch

Maya schloss die Augen. Die Echos wurden stärker. Manchmal träumte sie in Quantenzuständen, sah sich selbst in tausend Variationen: Reich. Arm. Tot. Lebendig. Heldin. Verräterin.

III. Collapse

„Es ist wie die Atombombe“, sagte sie zu niemand Bestimmten. Das Labor war leer um 3 Uhr morgens, nur sie und die summenden Kryopumpen. „Jemand wird es bauen. Wenn nicht wir, dann China. Oder Israel. Oder irgendein Verrückter in einer Garage.“

Der Willow-Chip pulsierte. Maya hatte Shor's Algorithmus optimiert, aber selbst mit allen Tricks blieb die Hürde unüberwindbar. Statt der Lebensdauer von Billionen Universen nur noch Milliarden Jahre. Progress.

Sie tippte:

> initialize_shor --target random_dormant_wallet
>
> WARNING: Success probability = Homeopathy squared
> WARNING: Estimated time to solution = 10^9 years
> WARNING: You will be dead
> WARNING: Your children will be dead
> WARNING: Bitcoin will be dead
> WARNING: The sun will be lukewarm
> WARNING: This warning is longer than your lifespan
>
> Proceed? [Y/N]

Der Cursor blinkte. Hypnotisch. Absurd.

Maya dachte an James Bridles längst vergessene Worte über Netzwerk-Realitäten. Wie das Internet ein lebendiges Ding geworden war, ein Superorganismus aus Kabeln und Funkwellen und menschlichen Träumen. Bitcoin war sein Nervensystem, die Blockchain sein Gedächtnis. Und sie hielt gerade ein Skalpell an sein Gehirn.

Eine Billion Dollar für den Wiederaufbau nach Klimakatastrophen. Für Bildung. Für Medizin. Aber auch: Ein System, das sein eigenes Fundament kannibalisiert, überlebt nicht lange.

Quantum Echo — Final Burst:

Timeline Omega: Konvergenzwahrscheinlichkeit steigend.
Beobachter-Effekt detektiert
Warnung: Narrative Rekursion
Observer = System = Observed
Creator = Destroyer = Preserver
ERROR: OBSERVER PARADOX DETECTED

Maya blinzelte. Stand sie nicht gerade noch? Jetzt saß sie. Der Code auf dem Bildschirm war bereits gelöscht. Hatte sie das getan? Die Entscheidung fühlte sich an wie eine Erinnerung an etwas, das noch nicht passiert war.

Sie lachte. Trocken. Erschöpft. Die Lösung war so offensichtlich. Satoshi hatte es gewusst. Die verlorenen Coins waren kein Fehler, sie waren ein Feature. Ein Honeypot für die Menschheit. Ein Test.

Maya löschte alles. Backups. Notizen. Dann tippte sie eine Nachricht an eine Adresse, die seit 2011 stumm war:

„Die Wellenfunktion bleibt unkollabiert. Satoshi's Shield hält. Vorerst. – M.C.“

Keine Antwort kam. Keine Antwort würde kommen. Die Stille war Antwort genug. Am nächsten Morgen würde Krishnamurthy fragen. Sie würde von einem Fehler in der Kohärenzmatrix erzählen, von korrupten Daten, von Jahren zusätzlicher Forschung. Er würde ihr nicht glauben. Aber er würde auch nicht nachbohren.

Epilog

2035, Bitcoin bei 50 Millionen Dollar. Satoshi's Coins: 55 Billionen Dollar. Unberührt. Unberührbar.

Maya Chen leitete ein Labor für Quantenethik. Sie bauten Maschinen mit hundert logischen Qubits. Noch 1.400 zu wenig für einen echten Angriff. Manchmal, spät nachts, starrte sie auf die Adressen alter Wallets, stellte sich vor, was ihre Besitzer wohl gedacht hatten. Digitale Grabsteine einer optimistischeren Zeit.

In den Quanten-Discord-Channels erzählte man sich Geschichten von der Frau, die eine Billion Dollar hätte stehlen können und es nicht tat. Manche nannten sie verrückt. Andere nannten sie Satoshi.

Beides stimmte. Beides stimmte nicht.

Die Wellenfunktion hatte nie kollabiert. Aber Maya verstand: Manche Dinge mussten in Superposition bleiben. Die Ungewissheit war kein Bug; sie war das einzige Feature, das das System am Leben hielt.

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