Zuvor

Sechs Monate später

Marcus stand am Fenster, Emma auf dem Arm, und beobachtete die Stadt aufwachen.

5:47 Uhr. Emma hatte ihn geweckt – hungrig, laut, unerbittlich. Er hatte sie gefüttert, gewickelt, gewiegt. Jetzt schlief sie wieder, warm gegen seine Brust, ihr Atem ein leiser Rhythmus.

Draußen färbte sich der Himmel rosa. Berlin erwachte. Autos. Menschen. Leben.

Marcus zählte nicht mehr. Keine Stufen, keine Atemzüge, keine Sekunden. Er hatte irgendwann aufgehört. Wann genau, wusste er nicht.

Vielleicht in der Nacht, als Emma zum ersten Mal durchgeschlafen hatte.

Vielleicht an dem Tag, als Sarah gesagt hatte: „Ich bin stolz auf dich.“

Vielleicht nie. Vielleicht zählte ein Teil von ihm immer noch, tief drinnen, unsichtbar.

Emma atmete gleichmäßig weiter, machte ein kleines Geräusch. Marcus wiegte sie sanft, summte eine Melodie. Eines der Lieder, die Sarah ihr vorsang. Er kannte den Text nicht, aber die Melodie hatte sich in seinem Kopf festgesetzt.

Oder war es in M2s Kopf? Und hatte es sich übertragen?

Er wusste es nicht mehr. Die Grenzen waren verschwommen.


Hinter ihm bewegte sich Sarah im Bett, wachte auf.

„Wie lange ist sie schon wach?“ Ihre Stimme war heiser vom Schlaf.

„Seit einer Stunde. Aber sie schläft wieder.“

Sarah stand auf, kam zu ihm, legte ihre Arme um ihn von hinten, ihren Kopf gegen seinen Rücken. Eine vertraute Geste. Eine, die M2 tausendmal erlebt hatte.

Oder hatte er sie erlebt? Marcus konnte sich nicht erinnern.

Nein. Das war eine Lüge. Er konnte sich erinnern. Zu gut.

„Du denkst wieder nach“, murmelte Sarah.

„Immer.“

„Worüber?“

Marcus schwieg einen Moment. Dann: „Über Entscheidungen. Über Wege, die wir nicht gegangen sind.“

Sarah löste sich von ihm, trat neben ihn, sah ihn an. „Du meinst London.“

„Ja.“

Sie hatten nie wirklich darüber gesprochen. Über die Entscheidung, vor drei Jahren. Über das, was hätte sein können.

„Bereust du es?“ fragte Sarah leise. „Dass ich geblieben bin?“

Marcus sah sie an. Ihr Gesicht, müde von schlaflosen Nächten, aber glücklich. Ihre Augen, die ihn kannten. Oder dachten, ihn zu kennen.

„Nein“, sagte er. Und es war wahr. Größtenteils.

„Aber?“

„Aber manchmal frage ich mich … wer wir geworden wären. Wenn du gegangen wärst. Wenn ich mitgekommen wäre. Wenn wir andere Entscheidungen getroffen hätten.“

Sarah lächelte, traurig. „Ich auch. Manchmal.“

„Wirklich?“

„Natürlich. Jeder tut das. Jeder fragt sich, was wäre wenn.“ Sie strich Emma über den Kopf. „Aber dann sehe ich sie. Und ich weiß, dass dieser Weg der richtige war. Auch wenn er nicht perfekt ist.“

Marcus nickte. Sagte nichts.

Weil er nicht sagen konnte: Ich kenne den anderen Weg. Ich habe ihn gelebt. Und er war auch nicht perfekt.


Nach dem Frühstück, als Sarah mit Emma spazieren ging, setzte sich Marcus auf die Couch. Griff nach seinem Handy.

Keine neuen Nachrichten.

Es war Wochen her, seit M2 das letzte Mal geschrieben hatte. Ein kurzes Update: „Sarah und ich ziehen zusammen. Neue Wohnung. Neuer Anfang.“

Marcus hatte gratuliert. Hatte gefragt, wie es lief. Hatte keine Antwort bekommen.

Nicht aus Böswilligkeit, vermutete er. Sondern aus … Distanz. Sie lebten ihre Leben. Getrennt. Parallel. Aber nicht mehr verschränkt.

Oder doch?

Marcus stand auf, ging zum Fenster.

Auf der Fensterbank: eine Pflanze. Grün. Lebendig.

Nicht die aus seinem Büro – die war längst verwelkt, ersetzt.

Sondern eine neue. Eine, die Sarah vor Monaten gekauft hatte. „Für Emma“, hatte sie gesagt. „Damit sie etwas Grünes sieht.“

Marcus berührte ein Blatt. Weich. Lebendig.

Er goss sie regelmäßig. Ohne nachzudenken. Ohne zu zählen.

Einfach … weil sie da war.

Vielleicht war das Heilung. Nicht dramatisch. Nicht plötzlich.

Sondern still. Das Kümmern um kleine, lebendige Dinge.

Marcus schloss die Augen. Konzentrierte sich auf den Punkt zwischen seinen Augenbrauen. Dachte an Wasser. Kalt. Fließend.

Suchte nach dem Flackern.

Es war da. Schwach. Kaum spürbar. Wie ein Echo eines Echos.

Aber da.

Marcus öffnete die Augen. Sein Herz schlug schneller.

Er könnte springen. Vielleicht. Wenn er es wirklich wollte. Wenn er sich konzentrierte. Wenn er loslassen würde.

Aber wollte er?

Er ging zum Regal. Die Gitarre stand dort, glänzend. Nicht die von seinem Vater – die war verkauft, vor Monaten, in einem anderen Leben, in einem Krieg, der jetzt wie ein Traum erschien. Aber eine neue. Eine, die vor Monaten gekommen war, in einem Paket, adressiert an Marcus. Sarah hatte gedacht, sie hätte sie bestellt. „Baby-Brain“, hatte sie gelacht.

Aber Marcus wusste: Das war M2. Er hatte sie online bestellt, mit Marcus' Konto, Marcus' Adresse. Ein Geschenk. Von einem Leben ins andere. Eine Entschuldigung. Für die verkaufte Gitarre. Für den Krieg.

Ein Neuanfang.

Marcus hatte angefangen zu lernen. Basics. Akkorde. Seine Finger erinnerten sich nicht, aber sie lernten.

Oder erinnerten sie sich doch? An Stunden, die M2 verbracht hatte, in Helix-1, übend, kämpfend mit den Saiten?

Marcus nahm die Gitarre, setzte sich, legte seine Finger auf die Saiten.

Spielte.

Die Melodie kam, holprig, aber da. Ein Kinderlied. Eines, das Sarah Emma vorsang.

Hatte er das gelernt? Oder wusste er es einfach?

Die Grenzen verschwammen.


Am Nachmittag ging Marcus spazieren. Allein. Sarah hatte darauf bestanden.

„Du brauchst Zeit für dich“, hatte sie gesagt. „Geh. Atme. Denk nach. Oder denk nicht nach.“

Er ging durch Neukölln, vorbei an Cafés, Parks, Menschen. Die Stadt lebte. Laut, chaotisch, schön.

Marcus' Handy vibrierte. Er zog es heraus.

Eine Nachricht. Von M2.

Sein Herz machte einen Sprung.

„Spürst du es?“

Marcus blieb stehen, mitten auf dem Gehweg. Menschen strömten um ihn herum.

„Was?“

„Das Flackern. Es ist stärker heute. Ich weiß nicht warum.“

Marcus schloss die Augen. Ja. Er spürte es. Stärker als in Wochen.

„Ja. Ich spüre es.“

„Ich habe heute an Emma gedacht. Den ganzen Tag. Ich habe versucht, nicht zu denken, aber … ich kann nicht aufhören.“

„Willst du springen?“

Stille. Marcus stand da, Handy in der Hand, wartete.

„Ich weiß nicht. Ja. Nein. Vielleicht. Ich will sie sehen. Halten. Kennenlernen. Aber …“

„Aber?“

„Aber das ist nicht mein Leben mehr. Ich habe ein anderes. Mit deiner Sarah. Mit einer Zukunft, die nicht Emma beinhaltet. Und das ist okay. Meistens.“

„Meistens.“

„Ja. Meistens.“

Marcus setzte sich auf eine Parkbank. Sah auf sein Handy.

„Ich denke auch manchmal daran. Zu springen. Zurück nach Helix-1. Zu sehen, wie dein Leben aussieht. Ob es besser ist. Ob es leichter ist.“

„Ist es nicht.“

„Woher weißt du das?“

„Weil kein Leben leicht ist. Wir haben das gelernt, oder? Es gibt kein besseres Leben. Nur andere Probleme.“

Marcus lächelte. „Ja.“

„Aber du fragst dich trotzdem.“

„Ja.“

„Ich auch.“

Sie schrieben eine Weile, hin und her. Über Emma. Über Sarah – beide Sarahs. Über die Leben, die sie lebten. Die Leben, die sie nicht lebten.

Dann, nach einer langen Pause:

„Wenn das Flackern zurückkommt. Richtig zurückkommt. Würdest du springen?“

Marcus starrte auf die Frage. Dachte nach. Lange.

„Ich weiß nicht“, schrieb er schließlich. „Vielleicht. Vielleicht nicht. Ich glaube, das ist die Frage, die ich für den Rest meines Lebens stellen werde.“

„Und die Antwort?“

„Die Antwort ändert sich. Jeden Tag. Manchmal jede Stunde.“

„Ja. Bei mir auch.“

„Ist das der Preis? Für das Wissen, dass es Alternativen gibt?“

„Ich glaube schon. Wir können nie wieder glauben, dass unser Leben das einzige ist. Das einzig mögliche. Wir wissen, dass es andere gibt. Und das nagt. Immer.“

Marcus lehnte sich zurück, sah in den Himmel. Wolken zogen vorbei, formlos, endlos.

„Aber wir bleiben trotzdem. Wo wir sind.“

„Ja. Wir bleiben. Weil das Leben nicht perfekt sein muss. Es muss nur gelebt werden.“

„Vater hätte das gemocht. Diese Erkenntnis.“

„Ja. Er hätte gelacht. Und dann hätte er gesagt: Hört auf zu philosophieren und lebt einfach.“

Marcus lächelte. „Ja.“


Am Abend, als Emma schlief und Sarah neben ihm auf der Couch saß, spürte Marcus das Flackern wieder.

Stärker diesmal. Fast schmerzhaft.

Er schloss die Augen. Konzentrierte sich. Der Geschmack von Kupfer explodierte auf seiner Zunge.

Er könnte springen. Jetzt. Zurück nach Helix-1. Zu seinem alten Leben. Zu sehen, was M2 daraus gemacht hatte.

Oder nach vorn. Zu einem dritten Leben. Einem vierten. Unendliche Möglichkeiten, unendliche Welten.

Das Ziehen wurde stärker. Das Fallen. Die Verführung.

Sarah legte eine Hand auf seine. „Alles okay?“

Marcus öffnete die Augen. Sah sie an.

„Ja“, sagte er. „Alles okay.“

Das Flackern war noch da. Würde immer da sein. Eine leise Erinnerung an das, was möglich war. An die Welten, die er nicht lebte.

Aber er war hier. Jetzt. Mit Sarah. Mit Emma.

Das war genug.

Meistens.

Sarah kuschelte sich an ihn. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“

„Auch wenn du manchmal woanders bist. In deinem Kopf.“

Marcus lächelte. „Auch dann.“

Sie saßen so, in Stille, während draußen die Stadt lebte.

Marcus' Uhr zeigte 14:37. Immer noch stehengeblieben.

Aber vielleicht … vielleicht tickte sie doch. Unhörbar. Unsichtbar. Aber da.

Marcus hielt sie ans Ohr. Lauschte.

Nichts.

Oder … doch? Ein leises Ticken? So schwach, dass er nicht sicher war, ob er es sich einbildete.

Er ließ die Hand sinken. Lächelte.

Marcus schloss die Augen. Nicht um zu springen. Nur um zu sein.

Das Flackern war da. Würde immer da sein.

Aber er blieb.

Heute.

Morgen vielleicht nicht.

Aber heute blieb er.


Irgendwo, in Helix-1:

M2 stand am Fenster seiner neuen Wohnung. Sarah – die andere Sarah – schlief im Bett hinter ihm.

Die Wohnung roch nach frischer Farbe. Nach Neuanfang. Sie waren vor zwei Wochen eingezogen. Ein paar Kisten standen noch unausgepackt in der Ecke.

Aber es fühlte sich an wie … Zuhause. Zum ersten Mal seit Monaten.

Er spürte das Flackern. Stark. Verlockend.

Er könnte springen. Zu Emma. Zu dem Leben, das er nicht lebte. Zu der Tochter, die er nie halten würde.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Sehnsucht war physisch, schmerzhaft. Ein Loch in seiner Brust, das nie ganz heilen würde.

Er hatte das Foto gesehen. Das, das M1 geschickt hatte. Emma, winzig, schlafend.

Seine Tochter. Die er nie halten würde.

M2 hatte es ausgedruckt. Heimlich. Lag jetzt in seiner Schublade, unter alten Rechnungen.

Er sah es manchmal an. Spät nachts, wenn Sarah schlief.

Und jedes Mal fühlte es sich an, als würde etwas in ihm zerbrechen.

Aber er bewegte sich nicht.

Drehte sich um. Sah auf Sarah.

Sie war nicht schwanger. Würde vielleicht nie schwanger sein. Das war ein anderes Leben. Andere Entscheidungen.

Aber sie war hier. Real. Seine.

Und das musste genug sein.

M2 ging zurück ins Bett. Legte sich neben sie. Sie murmelte etwas im Schlaf, kuschelte sich an ihn.

Das Flackern pulsierte, leise.

Er dachte an Emma. An das Foto, das M1 geschickt hatte. An die winzigen Finger, die er nie halten würde.

Die Sehnsucht war da. Würde immer da sein.

Aber Sarah war auch da. Warm. Real. Hier.

Und das musste genug sein.

Aber er blieb.

Für jetzt.


Irgendwo, zwischen den Welten:

Das Flackern pulsierte. Leise. Endlos.

Eine Frage ohne Antwort.

Ein Leben ohne Gewissheit.

Aber gelebt. Trotzdem.


Marcus, am Fenster, Emma auf dem Arm.

Das Flackern, unsichtbar, aber spürbar.

Die Uhr bei 14:37.

Die Stadt erwacht.

Und Marcus bleibt.

Für jetzt.


Ende.

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