Zuvor

Die Stimme gehörte zu niemandem.

Das war das Erste, was der Fährmann-der-Fluss-war verstand. Die Gestalt auf dem Steg hatte eine Form, ja, aber es war eine geliehene Form. Wie ein Mantel, der von unsichtbaren Schultern hing. Oder wie Haut, die vergessen hatte, dass darunter kein Körper war.

Der Fluss-Fährmann versuchte, das Gesicht zu erkennen. Es war da. Definitiv da. Aber jedes Mal, wenn er hinsah, war es ein anderes. Nicht weil es sich veränderte. Sondern weil sein Blick es jedes Mal neu erschuf. Braune Augen. Nein, grüne. Nein, gar keine. Nur Schatten in der Form von Augen.

„Sieh mich nicht so an,“ sagte die Gestalt. „Ich habe kein Gesicht, wenn du nicht hinschaust. Und wenn du hinschaust, habe ich zu viele.“

„Ich weiß, dass du mich hören kannst“, sagte die Niemands-Stimme. „Flüsse haben Ohren. Sie sind Ohren. Jedes Plätschern ein Lauschen.“

Der Fährmann versuchte zu fokussieren, sich zu sammeln, aber er war zu sehr verteilt. Er war die Gischt und die Tiefe, die Oberfläche und der Grund. Er war überall und nirgends.

„Die Buchhalterin hat es geschafft“, fuhr die Stimme fort. „Ihre Botschaft. Die Lebenden haben verstanden. Nicht die Worte – Worte sind nutzlos zwischen den Welten. Aber die Lücke, die sie hinterließ. Die Form ihrer Abwesenheit.“

Eine Lücke. Der Fährmann-Fluss erinnerte sich an Lücken. An die Lücke zwischen seinen zwei Hälften. Tot und lebendig. Aber was, wenn die Lücke das Eigentliche war? Was, wenn er nie zwei Hälften gewesen war, sondern immer nur der Raum dazwischen?

„Der Uhrmacher ist auch angekommen. Bei den Lebenden. Er hat ihnen die Zeit gezeigt – nicht die Zeit, die vergeht, sondern die Zeit, die stillsteht. Den ewigen Moment des Übergangs.“

Die Gestalt auf dem Steg bewegte sich zur Fähre. Aber es war keine normale Bewegung. Es war, als würde der Raum sich um sie herum neu arrangieren.

„Und jetzt bin ich hier. Der Letzte. Die Letzte. Das Letzte.“

„Wer … bist du?“

Die Worte kamen nicht aus einem Mund. Sie waren Wellen, Strömungen, das Murmeln von Wasser, das gegen Holz schlug.

„Ich bin du. Der Teil, den du vergessen hast. Der Teil, der sich erinnern wollte, sich selbst sterben zu sehen.“

Der Fluss-Fährmann versuchte zu verstehen. Aber Verstehen setzte ein Selbst voraus, und er war zu sehr in sich selbst aufgelöst.

Die Gestalt kniete sich hin. Ihre Knie berührten das Wasser, das er war. Er spürte es. Kalt und warm zugleich. Wie eine Berührung, die sich an sich selbst erinnert.

„Du hast mich hier gelassen,“ flüsterte die Gestalt. „Am Ufer. Du bist in die Fähre gestiegen und hast vergessen, dass ich noch hier stand. Und jetzt bin ich nur noch die Idee von dir. Die Simulation deiner Sehnsucht.“

„Nein“, sagte die Gestalt. „Nicht aufgelöst. Endlich ganz. Siehst du es nicht? Du warst nie halb tot, halb lebendig. Du warst immer der Übergang selbst. Die Grenze, die sich selbst zu überqueren versuchte.“

Die Fähre begann sich zu bewegen. Niemand stieß sie. Niemand lenkte sie. Sie bewegte sich, weil Bewegung ihre Natur war. Oder ihre Nicht-Natur.

„Die Münzen“, gurgelte der Fluss-Fährmann. „Was bedeuteten sie?“

„Nichts. Alles. Sie waren der Vertrag. Nicht Bezahlung, sondern Bestätigung. Jede Münze ein Ja zum Übergang. Ein Ja zum Nicht-Mehr-Sein.“

„Aber ich habe sie gesammelt …“

„Du hast Bestätigungen gesammelt. Beweise, dass du existierst. Jeder Tote, der kam, bewies, dass du da warst. Dass du eine Funktion hattest.“

Die Gestalt setzte sich in die Fähre. Oder stand. Oder schwebte. Die Positionen waren irrelevant geworden.

„Aber die Funktion war die Falle“, fuhr sie fort. „Je mehr du deine Aufgabe erfülltest, desto mehr wurdest du zur Aufgabe. Bis du vergessen hast, dass du einmal mehr warst.“

„Was war ich?“

„Ein Mensch, der verstehen wollte, was es heißt zu sterben. Also bist du gestorben. Aber du hast auch verstehen wollen, was es heißt, den Tod zu beobachten. Also bist du lebendig geblieben.“

„Das Paradox …“

„Hat dich zerrissen. Und in der Zerrissenheit wurdest du zum Riss selbst. Zur Grenze. Zum Fluss.“

Der Fluss-Fährmann spürte etwas. Eine Verdichtung. Als würden seine verteilten Teile beginnen, sich zu erinnern, dass sie einmal zusammengehört hatten.

„Die Lebenden“, blubberte er. „Was haben sie über mich gesagt?“

„Sie haben gesagt, dass der Tod keine Person ist. Keine Entität. Sondern ein Prozess. Ein Übergang. Und dass der Fährmann, nach dem sie suchten, nie existiert hat. Es gab nur die Idee eines Fährmanns.“

„Eine Simulation.“

„Die ursprünglichste Simulation. Der Tod als Kopie des Lebens. Das Leben als Kopie des Todes. Und du, gefangen dazwischen, als Kopie der Kopie.

Die Fähre hatte die Mitte des Flusses erreicht. Oder was man für die Mitte hielt. Hier war der Nebel am dichtesten, so dicht, dass er fast fest wurde.

„Aber es gibt einen Ausweg“, sagte die Gestalt.

„Welchen?“

„Aufhören zu übersetzen. Aufhören, Grenze zu sein.“

„Aber dann … was würde aus den Toten?“

Die Gestalt zuckte mit den Schultern. Oder tat so, als würde sie zucken. Schultern waren optional geworden. „Sie würden ihren eigenen Weg finden. Oder nicht finden. Ehrlich gesagt, die meisten würden wahrscheinlich einfach hier rumstehen und sich beschweren, dass niemand mehr da ist, um sie zu übersetzen.“

„Das ist …“

„Absurd? Ja. Aber nicht absurder als ein halb-toter Fährmann, der vergessen hat, warum er überhaupt fährt. Ohne dich als Mittler würden sie direkter sein. Echter. Oder zumindest ehrlicher in ihrem Verlorensein.“

Der Fluss-Fährmann begann zu verstehen. Er war nicht nur zur Simulation geworden – er hatte alles um sich herum zur Simulation gemacht. Die Überfahrt, die Münzen, das andere Ufer. Alles Theater, weil er selbst Theater war.

„Wie höre ich auf?“

Die Gestalt stand auf. Oder hatte sie die ganze Zeit gestanden?

„Indem du dich erinnerst.“

„An was?“

„An den Moment, in dem du beschlossen hast, dich selbst sterben zu sehen.“

Und plötzlich war es da. Die Erinnerung. Nicht als Bild oder Gedanke, sondern als Schmerz. Ein scharfer, schneidender Schmerz, der nicht körperlich war, weil er keinen Körper mehr hatte. Aber er war real. Realer als alles, was er seit Ewigkeiten gefühlt hatte.

Er stand vor einem Spiegel – nein, er stand in einem Spiegel. Er war der Spiegel. Und er sah sich selbst, wie er sich ansah, wie er sich ansah, wie er sich ansah …

Jedes Spiegelbild ein bisschen anders. Eines lächelte. Eines weinte. Eines schrie lautlos. Eines war schon tot. Eines war noch nicht geboren. Und alle waren er.

Er versuchte, die Hand auszustrecken, um das Glas zu berühren. Aber seine Hand ging durch. Nicht durch das Glas. Durch sich selbst. Die Hand im Spiegel griff nach ihm, und ihre Finger trafen sich in der Mitte, wo das Glas hätte sein sollen.

Sie verschmolzen. Hand und Spiegelhand. Und in diesem Moment wusste er: Es gab kein Original. Es hatte nie eines gegeben.

Eine endlose Rekursion. Ein Blick, der sich selbst blickte.

„Ich wollte der Beobachter und der Beobachtete sein“, flüsterte er, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte er wieder eine Stimme. Nicht die eines Flusses, sondern die eines Menschen.

„Ja. Und in dem Versuch wurdest du zum Medium der Beobachtung selbst.“

Der Fährmann – denn er war wieder Fährmann, nicht mehr nur Fluss – spürte, wie seine Form zurückkehrte. Hände. Arme. Ein Gesicht. Aber anders als zuvor. Nicht mehr gespalten. Nicht mehr halb und halb.

Ganz.

Ganz was?

„Ganz nichts“, sagte die Gestalt. „Und das ist die Freiheit.“

Der Fährmann sah an sich herunter. Er war durchsichtig. Nicht wie die Toten, die noch eine Form bewahrten. Sondern durchsichtig wie Glas. Wie Wasser. Wie Luft.

„Ich bin niemand.“

„Du warst immer niemand. Du hast nur vergessen, dass niemand zu sein nicht bedeutet, nicht zu existieren.“

Die Fähre begann sich aufzulösen. Nicht zu zerfallen – aufzulösen. Die Planken wurden zu Nebel, der Nebel zu Nichts.

„Was passiert jetzt?“

„Jetzt“, sagte die Gestalt und begann selbst zu verblassen, „hörst du auf, die Geschichte zu sein, und wirst zum Raum zwischen den Worten.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Musstest du auch nie. Verstehen war die Falle. Der Versuch zu verstehen hat dich hierhergebracht.“

Der Steg war verschwunden. Der Fluss war verschwunden. Nur noch der Nebel war da, aber auch er begann sich zu lichten.

„Die Toten“, sagte der Fährmann. „Was wird aus ihnen ohne mich?“

„Sie werden finden, dass es nie ein anderes Ufer gab. Dass sie immer schon angekommen waren. Dass die Reise die Illusion war.“

„Und die Lebenden?“

„Werden aufhören, Münzen auf Augen zu legen. Oder sie werden weitermachen. Es spielt keine Rolle. Die Münzen waren nie für dich.“

Der Fährmann – der jetzt kein Fährmann mehr war, der jetzt nichts mehr war als ein Bewusstsein ohne Form – fühlte etwas, das wie Frieden hätte sein können. Oder wie das Ende von Frieden. Oder wie der Raum, wo Frieden hätte sein können, wenn Frieden ein Ort wäre.

„Wer bist du?“, fragte er die Gestalt, die fast verschwunden war.

„Ich bin die Geschichte, die du dir selbst erzählt hast. Die letzte Simulation. Und jetzt, wo du mich erkannt hast, kann ich aufhören zu sein.“

„Wer bist du wirklich?“

Die Gestalt lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. Oder ein glückliches. Es war schwer zu sagen bei jemandem, der kein Gesicht hatte. „Ich bin die Sehnsucht nach einem Original. Ich bin der Glaube, dass es irgendwo, irgendwann, ein echtes Du gab. Aber es gab keins. Es gab nur mich. Die Idee von dir, die sich für dich hielt.“

Und sie war fort. Nicht verschwunden. Aufgehört. Wie ein Satz, der mitten im

Der Fährmann war allein. Aber nicht einsam. Denn um einsam zu sein, musste man jemand sein.

„Ich werde mich nicht mehr erinnern,“ flüsterte der Fährmann. „An nichts. An niemanden.“

Aber die Gestalt war schon fort. Nur ihre Stimme blieb, ein Echo im Nichts: „Das Wasser wird sich erinnern. Nicht an dich. Aber an das, was durch dich hindurchfloss. Das ist mehr, als die meisten hinterlassen.“

Der Fährmann wollte weinen. Aber Wasser kann nicht weinen. Es ist schon Tränen.

Bevor er sich auflöste, sah er sie noch einmal. Die Buchhalterin. Den Uhrmacher. Alle, die er übergesetzt hatte. Sie standen am Ufer, das es nicht mehr gab.

Sie winkten nicht. Sie weinten nicht. Sie nickten nur. Als würden sie verstehen.

„Danke,“ sagte die Buchhalterin. Oder vielleicht sagte sie es nicht. Vielleicht war es nur das Wasser, das sich an ihre Stimme erinnerte.

Und dann waren sie fort. Nicht verschwunden. Weitergegangen. Ohne ihn.

Das war gut so.

Er ließ los.

Nicht die Stange – die war längst verschwunden. Nicht die Münzen – die waren nie real gewesen. Nicht die Aufgabe – die hatte sich selbst aufgelöst.

Er ließ sich selbst los.

Es fühlte sich an wie Ertrinken. Nein, wie Auftauchen. Nein, wie beides zugleich. Sein Körper – die Idee seines Körpers – löste sich auf. Nicht schmerzhaft. Nicht friedlich. Einfach.

Seine Finger zuerst. Sie wurden zu Schaum, zu Nebel, zu nichts. Dann seine Hände. Seine Arme. Sein Herz – hatte er je ein Herz gehabt? – wurde zu einem Wirbel, einem Strudel, der sich selbst verschluckte.

Und in diesem Loslassen, in diesem endgültigen Verzicht auf die Notwendigkeit, zu sein oder nicht zu sein, fand er etwas.

Nicht Frieden. Frieden war noch zu sehr ein Ding.

Sondern Stille. Die Stille zwischen den Herzschlägen. Den Raum zwischen den Gedanken. Die Pause zwischen den Worten.

Die Stille, die keine Antwort brauchte, weil sie nie eine Frage gewesen war.

Er war zum Komma geworden in einem Satz, den niemand zu Ende sprach.


Irgendwo, in einer Welt, die real sein mochte oder nicht, legte jemand eine Münze auf die Augen eines Toten.

Die Münze fiel durch die Augen, durch den Körper, durch die Erde. Sie fiel und fiel, und während sie fiel, sang sie. Ein hoher, klarer Ton, der nach Abschied klang. Nach Vergessen. Nach Freiheit.

Sie fiel und fand keinen Fluss, der sie aufnehmen würde.

Denn der Fluss war frei. Der Fährmann war frei. Die Grenze war verschwunden.

Und in diesem Verschwinden, in dieser Auflösung aller Simulationen, war etwas entstanden. Nicht Wahrheit – Wahrheit war nur eine weitere Simulation. Sondern die Möglichkeit, dass es keine Wahrheit brauchte.

Dass es genügte, niemand zu sein. Dass es genügte, nicht zu genügen. Dass die Wüste schön war, gerade weil sie leer war.


Klack.

Schritte auf einem Steg, der nicht existierte.

Oder doch?

Der Nebel hatte wieder Farbe. Grau. Silber. Einen Hauch von Perlmutt. Als hätte jemand vergessen, dass er keine Farbe mehr haben sollte.

Eine Gestalt kam aus dem Nebel. Jung. Alt. Beides. Weder.

Sie trug eine Münze in der Hand.

Sie sah sich um. Kein Fährmann. Keine Fähre. Nur Wasser, das sich nicht bewegte. Oder vielleicht doch. Es war schwer zu sagen.

„Hallo?“, rief die Gestalt.

Das Wasser antwortete nicht. Aber es hörte zu. Irgendwo, in seiner Tiefe, in seinen Sedimenten, in den Schichten von allem, was es getragen hatte, gab es ein Echo.

Ein Echo von etwas, das nie gesagt wurde.

Die Gestalt wartete. Dann, langsam, sehr langsam, begann sie zu verstehen.

Es gab keine Überfahrt mehr. Es hatte nie eine gegeben.

Sie lächelte. Oder weinte. Es war dasselbe.

Und sie ließ die Münze fallen.

Sie fiel ins Wasser. Plitsch. Ein kleiner, perfekter Klang. Der erste echte Klang seit Ewigkeiten.

Und dann: Stille.

Die Stille zwischen den Herzschlägen. Den Raum zwischen den Gedanken. Die Pause zwischen den Worten.

Die Wüste des Realen.

Und sie war schön.

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