Der Panzer rollte die Hauptstraße entlang, und Marie stellte sich einfach davor. Nicht aus Mut oder Protest – sie verstand nur nicht, warum er stärker sein sollte als sie.

„Das ist doch nur Metall", sagte sie zu niemandem Bestimmten. „Und ich bin ein Mensch."

Der Panzer hielt an.

Die Soldaten im Inneren drückten verzweifelt auf Pedale und Hebel, aber die 60-Tonnen-Maschine bewegte sich keinen Millimeter. Marie tippte gegen die Kette und schob den Koloss beiseite, wie man einen Einkaufswagen aus dem Weg räumt.

„Entschuldigung", sagte sie. „Ich muss hier durch."


Es hatte vor drei Wochen angefangen. Marie war 34, arbeitete in der Stadtbibliothek und hatte noch nie in ihrem Leben über Physik nachgedacht. Als ihr Fahrrad einen Platten hatte, trug sie es einfach nach Hause – zwölf Kilometer, das Rad über dem Kopf, weil sie nicht verstand, warum es schwer sein sollte.

„Ist doch nur ein Fahrrad", murmelte sie.

Ihre Nachbarin, Frau Kowalski, sah sie vom Balkon aus und ließ fast ihre Gießkanne fallen. „Marie! Wie machst du das?"

„Was denn?", fragte Marie und stellte das Rad ab, als wäre es aus Pappmachė.


Die Nachrichten berichteten über den Panzer-Vorfall. Experten diskutierten über Massenhalluzinationen, inszenierte Videos, neue Technologien. Marie sah es im Fernsehen und wunderte sich, warum alle so aufgeregt waren.

„Natürlich kann ein Mensch einen Panzer aufhalten", sagte sie zu ihrer Katze Schrödinger. „Menschen haben Panzer gebaut. Warum sollten wir schwächer sein als unsere eigenen Erfindungen?"

Schrödinger miaute zustimmend und war gleichzeitig tot und lebendig, weil Marie nicht verstand, warum er sich entscheiden müsste.


In der Bibliothek ordnete Marie die Bücher neu. Nicht nach Alphabet oder Dewey-System, sondern nach Gefühl. „Dieser Roman möchte neben dem Kochbuch stehen", erklärte sie ihrer Kollegin Sandra. „Sie unterhalten sich gern."

Sandra lachte nervös, bis sie sah, wie die Bücher tatsächlich miteinander flüsterten. Seiten raschelten in einer Sprache, die es gestern noch nicht gegeben hatte.

„Marie", flüsterte Sandra. „Die Bücher … sie sprechen."

„Natürlich", sagte Marie. „Bücher sind voller Worte. Warum sollten sie stumm sein?"


Die Realität begann zu stottern.

In Maries Nachbarschaft regnete es nach oben, weil sie nicht verstand, warum Wasser nur in eine Richtung fallen sollte. Die Schwerkraft wurde optional. Herr Chen vom Kiosk schwebte sanft zur Arbeit, weil Marie ihm gesagt hatte, dass Laufen doch viel anstrengender sei.

„Aber … aber das geht nicht!", stammelte er, während er drei Meter über dem Bürgersteig dahintrieb.

„Warum nicht?", fragte Marie aufrichtig verwirrt. „Sie bewegen sich doch?"


Die Regierung schickte Wissenschaftler. Sie kamen mit Instrumenten und Theorien, mit Formeln und Naturgesetzen. Dr. Hartmann, der Leiter des Teams, versuchte es Marie zu erklären.

„Sehen Sie, Frau Weber, es gibt fundamentale Kräfte im Universum. Gravitation, Elektromagnetismus …"

„Ach so", unterbrach Marie. „Wie Liebe und Freundschaft?"

„Nein, das sind keine …"

Aber Marie nickte bereits verstehend, und plötzlich waren Liebe und Freundschaft messbare Grundkräfte mit eigenen Teilchen und Wellenlängen. Dr. Hartmanns Instrumente schlugen aus. Die Gleichungen auf seiner Tafel ordneten sich neu, fügten Variablen für Zuneigung und Sehnsucht hinzu.

„Das ist unmöglich", flüsterte er.

„Warum?", fragte Marie. „Sie haben es doch gerade selbst gemessen."


Die Katze Schrödinger hatte mittlerweile aufgehört, sich zu entscheiden. Sie existierte in allen möglichen Zuständen gleichzeitig – schlafend auf dem Sofa, jagend im Garten, tot in einer Box, noch nicht geboren. Marie fütterte alle Versionen gleichzeitig.

„Du musst dich nicht festlegen", sagte sie zu den vielen Katzen, die eine Katze waren. „Warum sollte man nur eine Sache gleichzeitig sein?"


Die Zeitungen (die jetzt manchmal rückwärts geschrieben waren, weil Marie nicht verstand, warum Geschichten nur in eine Richtung erzählt werden sollten) berichteten von globalen Anomalien. In Tokyo schneite es Kirschblüten aus der Zukunft. In New York sprachen die Wolkenkratzer miteinander über das Wetter. In Berlin hatte die Mauer beschlossen, nie gebaut worden zu sein.

Marie las davon in der Bibliothek, wo die Bücher mittlerweile ihre eigenen Fortsetzungen schrieben.

„Die Welt wird seltsam", sagte Sandra, die inzwischen durchsichtig war, weil Marie gemeint hatte, sie sähe heute aber blass aus.

„War sie das nicht schon immer?", fragte Marie.


Professor Yamamoto flog aus Japan ein – nicht mit dem Flugzeug, sondern persönlich, weil Marie ihm am Telefon gesagt hatte, dass Entfernung doch nur eine Idee sei.

„Frau Weber", sagte er in perfektem Deutsch, das er nie gelernt hatte. „Sie müssen aufhören. Die Realität kollabiert."

„Kollabiert?", fragte Marie. „Wie ein müder Mensch?"

„Nein, wie ein … wie ein …" Er suchte nach Worten, aber die Sprache hatte aufgehört, lineare Bedeutungen zu haben. Jedes Wort bedeutete jetzt alles und nichts gleichzeitig.


Marie ging nach Hause. Unterwegs traf sie den Tod, der auf einer Parkbank saß und Kreuzworträtsel löste.

„Hallo", sagte Marie freundlich.

„Solltest du mich sehen können?", fragte der Tod unsicher.

„Warum nicht? Sie sitzen doch da."

Der Tod seufzte. „Weißt du, was du anrichtest?"

„Ich gehe nur nach Hause."

„Nein, ich meine …" Der Tod verstummte. Wie erklärt man jemandem die Regeln, der nicht versteht, dass es Regeln gibt? „Die Realität, wie alle sie kennen, löst sich auf."

„Oh", sagte Marie. „Tut mir leid. Aber warum sollte die Realität nur eine Art sein?"


Zu Hause angekommen, fand Marie ihre Wohnung vor, wie sie sie verlassen hatte, nur dass sie jetzt auch alle Wohnungen war, die sie je hätte haben können. Schrödinger war überall und nirgends. Die Möbel unterhielten sich leise über den Tag.

Marie setzte sich auf ihr Sofa, das gleichzeitig neu und antik war.

„Vielleicht", sagte sie zu niemandem Bestimmten, „sollte ich verstehen lernen, warum Dinge sind, wie sie sind."

Aber der Gedanke erschien ihr absurd. Warum sollte sie verstehen müssen, was offensichtlich keinen Sinn ergab? Panzer waren nicht stärker als Menschen. Wasser fiel nicht nur nach unten. Katzen mussten sich nicht zwischen tot und lebendig entscheiden.

Die Welt war, wie sie ihr gefiel.


Am nächsten Morgen (der gleichzeitig Abend und Mittag war) wachte die Menschheit in einer Realität auf, die keine Regeln mehr kannte. Physiker weinten über Formeln, die sich ständig selbst umschrieben. Philosophen jubelten und verzweifelten im selben Atemzug. Kinder fanden es normal – sie hatten schon immer gewusst, dass Erwachsene sich die Kompliziertheit nur einbildeten.

Marie ging zur Arbeit in die Bibliothek, die jetzt auch ein Ozean, ein Wald und eine Erinnerung war. Sie sortierte Bücher, die noch geschrieben werden würden, und lieh Geschichten aus, die sich selbst erzählten.

Sandra (die immer noch durchsichtig war, es aber mochte) fragte: „Marie, was ist Realität?"

Marie überlegte kurz, während sie ein Buch streichelte, das schnurrte.

„Keine Ahnung", sagte sie ehrlich. „Aber warum sollte ich das wissen müssen?"

Und damit hatte sie, ohne es zu wissen, die letzte Regel gebrochen: Die Regel, dass es Regeln geben muss.

Die Realität, erleichtert von der Last der Logik, atmete auf und wurde zu dem, was sie schon immer hatte sein wollen:

Alles gleichzeitig.


Ende.


In der Bibliothek, die alle Bibliotheken war, ordnete Marie weiter Bücher nach Gefühl. Manchmal besuchte sie der Tod zum Tee. Er hatte aufgehört, seinen Job zu machen, weil Marie nicht verstand, warum Ende und Anfang verschiedene Dinge sein sollten.

„Weißt du", sagte er eines Tages/Nachts/Immer, „ich glaube, du hattest die ganze Zeit recht."

„Womit?", fragte Marie, während sie ihrer Katze alle ihre Formen gleichzeitig kraulte.

„Dass es keinen Grund gibt, warum die Dinge sind, wie sie sind. Sie sind einfach."

Marie lächelte und schenkte ihm Tee ein, der gleichzeitig heiß und kalt war.

„Möchten Sie Zucker?"

„Warum nicht?", sagte der Tod.

Und das war, in dieser neuen alten Welt, die perfekte Antwort auf alles.

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