FN 141: Die Effizienz-Falle
Organisationen optimieren sich zu Tode. Das dominante Betriebssystem der Wirtschaft verspricht Kontrolle durch minimale Verschwendung, zahlt dafür aber mit dem schleichenden Verlust jeglicher Anpassungsfähigkeit.
Wir setzen Produktivität mit Auslastung gleich. Dieser semantische Irrtum maskiert einen fatalen Glitch, der Organisationen in spröde Konstrukte verwandelt. Beim ersten Kontakt mit einer volatilen Realität zerbrechen sie.
Die Spreadsheet-Illusion
Auf dem Papier – in der linearen Logik einer Excel-Tabelle – lautet die simple Rechnung: Input minimieren, Output maximieren. Das funktioniert bei geschlossenen Systemen wie einer Abfüllanlage.
Dein Unternehmen operiert jedoch als lebendes, interdependentes System in einem chaotischen Umfeld. In dieser Dimension verhalten sich Effizienz und Überlebensfähigkeit (Viability) oft antagonistisch.
Militärische Planung hält rund ein Drittel der Kräfte als Reserve. Ein Controller bezeichnet das als „Verschwendung“. Ein General nennt es „Optionen“. Keine Streitkraft plant mit 100 % Auslastung, da ein vollständig gebundener Akteur nicht manövrieren kann. Er wartet nur auf die Niederlage.
Die Wirtschaftswelt wählt den gegenteiligen Ansatz und plant mit 120 % Kapazität. Wir dehnen Rollen bis zum Riss und erwarten die Transformation parallel zum Tagesgeschäft. Entscheidungen bleiben im Sumpf der Überlastung stecken, weil Puffer, Reserven und der Raum für den OODA-Loop fehlen.
Systemische Starre tarnt sich hier als Produktivität.
Die Spiele, die wir spielen
Da das System leicht messbare „Effizienz“ belohnt, lernen Führungskräfte die entsprechenden Spielmechaniken. Es entstehen organisatorische Dark Patterns:
Die Phantom-Marge
Der schnellste Weg zum Bonus führt über Kostensenkung. Die Marge steigt kurzfristig, das Narrativ stimmt. Du entfernst dabei jedoch keine Fettpolster, sondern Muskelmasse. Wir beleihen die Zukunft, um die Bilanz der Gegenwart aufzuhübschen.
Die Last-Verschiebung
Umstrukturierungen pressen Aufgaben in bereits überlaufende Rollen. Teams nehmen das „sportlich“, die Führung feiert die Verschlankung. In der Realität verschwindet die Arbeit nicht, sie wird unsichtbar oder wandert als Komplexität stromabwärts, wo sie später als teurer Fehler wieder auftaucht.
Die Schatten-Kapazität
Nach zu tiefen internen Einschnitten kaufen wir die Kapazität zurück: Berater:innen, Freelancer:innen, Agenturen. Die internen Bücher zeigen eine schlanke Organisation („Headcount Freeze!“), während die externe Rechnung explodiert. Wir maskieren kreative Buchführung als Strategie.
Das Busy-Signal
Ein voller Kalender gilt als Statussymbol, Zeit zum Denken macht verdächtig. Führungskräfte brüsten sich mit 110 % Auslastung. In der Luftfahrt oder Notfallmedizin gilt „100 % Auslastung“ als Warnsignal für den imminenten Kollaps. Nur im Management feiern wir den Zustand der Handlungsunfähigkeit.
Der Mythos der individuellen Resilienz
Die zynischste Reaktion des Systems ist das „Resilienz-Training“. Wir schicken überlastete Mitarbeiter:innen in Achtsamkeits-Seminare und senden die implizite Botschaft: „Das System funktioniert, du bist nur zu schwach.“
Wir versuchen, das strukturelle Problem der Überlastung auf der Ebene des Individuums durch besseres Coping zu lösen. Systemtheoretisch betrachtet: Gaslighting.
Eine resiliente Organisation entsteht durch Strukturen, die Agilität zulassen, nicht durch Individuen, die lernen, Schmerz besser zu ertragen. Sie benötigt Luft zum Atmen, zum Scannen, zum Umsteuern.
Ashby's Gesetz und der Tod der Agilität
Stafford Beer und andere Kybernetiker:innen erkannten das Muster bereits vor Jahrzehnten. Das Gesetz der erforderlichen Varietät (Law of Requisite Variety) von W. Ross Ashby diktiert die Bedingungen:
Nur Varietät kann Varietät absorbieren. Damit ein System die Kontrolle behält, muss sein internes Repertoire an Handlungsoptionen mindestens so groß sein wie die Komplexität seiner Umwelt. Ein starres, voll ausgelastetes System verletzt dieses Gesetz. Übersteigt die Komplexität der Umwelt dein Reaktionsvermögen, verlierst du die Kontrolle. Das ist eine mathematische Unausweichlichkeit.
Die meisten Organisationen haben diesen Punkt längst überschritten. Sie simulieren Ordnung, während es unter der Oberfläche permanent brennt. Zum Löschen der Quelle fehlt die Kapazität, da alle Ressourcen für das Tragen der Wassereimer gebunden sind.
Strategischer „Slack“
Zyklisch wiederkehrende Entlassungswellen signalisieren keine Entschlossenheit, sondern strategische Panik. Wir entfernen Kapazitäten ohne Verständnis für die Kopplung der Systeme.
Der notwendige Begriff lautet „Operative Reserve“ oder „Strategischer Slack“.
Slack dient als Startbahn, während die naive Betrachtung darin nur eine Hängematte sieht. Ohne erhöhte Disziplin lädt Reservekapazität lediglich das Parkinsonsche Gesetz ein: Arbeit dehnt sich in dem Maß aus, wie Zeit zur Verfügung steht.
Echter strategischer Slack erfordert höhere Standards als bloße Abarbeitung. Die militärische Reserve nutzt die Zeit für Training, Planung, Simulation und das Schärfen der Klinge. Wir sprechen von aktiver Bereitschaft und einer Optimierung auf Manövrierfähigkeit statt auf Output.
Das Paradoxon aushalten
Adaptivität fordert ihren Preis: Ineffizienz. Eine Organisation, die lernt, überlebt und gewinnt, muss den Instinkt unterdrücken, jede freie Minute zu verplanen.
Effizienz behält ihre Berechtigung. Sie finanziert die Party, während Adaptivität sicherstellt, dass wir morgen noch auf der Gästeliste stehen. Die Aufgabe besteht darin, die Spannung zwischen Exploitation (das Bestehende effizient nutzen) und Exploration (das Neue entdecken) auszuhalten. Diese zwei gegensätzlichen Wahrheiten müssen gleichzeitig im Kopf existieren.
Effizienz dominiert das Sortieren von Schrauben. Bei der Navigation im Nebel wird blinde Effizienz zum Feind. Du benötigst keine Optimierung. Du benötigst Optionen.