FN 143: Fang mit dem an, was ist, und nicht damit, was du gerne hättest

Simon Sineks „Start With Why“ ist einer der gefährlichsten viralen Glitches im modernen Management. Jede Organisation leistet sich heute eine Purpose-Prosa. Ein beruhigendes Narrativ, das Führungskräften das Gefühl gibt, Strategie zu „machen“, während sie die harte Arbeit der strategischen Orientierung vermeiden.

Diese Statements dienen als moralische Anker. Die Sprache variiert, die Melodie ist identisch: Menschen helfen, Gemeinschaften dienen, die Zukunft neu denken, den Planeten retten.

Auf dem Papier sieht das nach Fortschritt aus. In der operativen Realität haben wir es jedoch mit einem Phänomen der Hyperrealität zu tun. Das Purpose-Statement ist zu einer Simulation geworden, die nicht mehr vorgibt, die Realität abzubilden, sondern sie ersetzt. Wir bewegen uns in einer Welt von Zeichen ohne Referenz.

Das Problem ist nicht, dass die Statements lügen. Das Problem ist, dass sie eine parallele Realität erschaffen, die immun gegen empirische Daten ist. Wenn deine Leute diesen Riss täglich sehen, inspiriert sie das nicht. Es versetzt sie in einen psychologischen Double Bind: Sie erhalten zwei widersprüchliche Signale auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen.

  1. Explizit (Das Wort): „Wir sind hier, um die Welt zu retten.“
  2. Implizit (Die Handlung): „Wir optimieren die Marge um jeden Preis.“

Dieser Double Bind ist die Architektur von Schizophrenie in Systemen. Er zwingt Mitarbeiter:innen, entweder die eigene Wahrnehmung zu verleugnen (Anpassung) oder zynisch zu werden (Selbstschutz).

Der Glitch hat reale Kosten: gescheiterte Transformationen, verwirrte Prioritäten, Reputationsschäden. Wenn sich der Purpose vom Verhalten entkoppelt, verliert die Führung den Empfang für ehrliche Signale. Strategie wird schwerer, nicht leichter.

Das „Warum“ hat die Realität als Ausgangspunkt des Denkens verdrängt. Wenn du Kohärenz willst, hör auf, die Simulation zu polieren. Fang mit dem an, was ist.

Die Mimetik des Wunsches

Warum klingen Banken, Ölkonzerne und Tech-Startups in ihrem „Warum“ fast identisch? Weil es sich hier nicht um authentische Identität handelt, sondern um mimetisches Verlangen.

Organisationen schauen sich gegenseitig an, um zu lernen, was begehrenswert ist. Sie kopieren nicht das operative Modell der Erfolgreichen, sie kopieren deren metaphysischen Statusanspruch. Der Purpose ist keine Strategie, er ist ein Status-Signal in einem sozialen Spiel. Man will zum Club der „Weltverbesserer“ gehören, ohne den Preis der Veränderung zu zahlen.

Drei Fallstudien zur Purpose-Realitäts-Lücke

Fall 1: Lloyds Banking Group – „Help Britain prosper“

Der Purpose der Lloyds Banking Group klebt an jeder Wand: „Help Britain prosper.“ Er ist verwoben mit der Strategie, dem ESG-Narrativ und der Kultur.

Parallel dazu strukturiert Lloyds seine Technologie- und Datenfunktionen um. 2024/25 begann der Aufbau eines massiven Tech-Hubs in Indien mit geplanten 4.000 Stellen, während tausende britische Tech-Mitarbeiter durch Auswahlverfahren und Stellenabbau geschleust werden.

Aus einer rein finanziellen Perspektive ist das rational. Lohnarbitrage ist Standardverhalten. Aus der Perspektive von „Help Britain prosper“ ist es eine massive kognitive Dissonanz.

Hier schneidet das Prinzip POSIWID durch die Simulation:

Purpose Of a System Is What It Does.

Wenn eine Bank Kostensenkung und Offshoring priorisiert, dann ist das ihr operativer Zweck. Das System tut genau das, wofür es gebaut wurde. Der Fehler liegt nicht im System, der Fehler liegt in der Beschreibung.

Fall 2: Thames Water – „Damit Kunden, Gemeinschaften und Umwelt gedeihen“

Der veröffentlichte Purpose von Thames Water: „Lebenswichtigen Service liefern, damit unsere Kunden, Gemeinschaften und die Umwelt gedeihen.“

Thames Water ist das Emblem eines gescheiterten Modells. Mit rund 17 Milliarden Pfund Schulden belastet, steht das Unternehmen im Zentrum öffentlicher Wut. Im Mai 2025 verhängte Ofwat eine Strafe von 122,7 Millionen Pfund wegen illegaler Abwassereinleitungen.

Wenn ein Wasserversorger:

  • hoch verschuldet ist,
  • wiederholt Flüsse verschmutzt,
  • und alternde Infrastruktur nicht saniert,

... dann ist sein realer Zweck die Maximierung kurzfristiger Finanzflüsse auf Kosten der Substanz. Das ist keine moralische Anklage, es ist eine systemische Feststellung. Die „Umwelt“-Rhetorik ist lediglich die Tarnfarbe, die das System benötigt, um im sozialen Terrain zu operieren.

Fall 3: BP – „Energie neu denken für Mensch und Planet“

BPs deklarierter Purpose: „Reimagining energy for people and our planet.“

Anfang 2025 kündigte BP eine strategische Verschiebung an: Erhöhung der jährlichen Öl- und Gasinvestitionen auf rund 10 Milliarden Dollar, Kürzung der Investitionen in Erneuerbare.

Das Muster ist identisch. Der deklarierte Purpose suggeriert eine Trajektorie. Die Kapitalallokation eine völlig andere. Wenn diese beiden Vektoren divergieren, kollabiert das Vertrauen. Nichts korrodiert Kohärenz schneller.

Zynismus als somatischer Marker

Führungskräfte beklagen oft den Zynismus ihrer Belegschaft. Sie versuchen ihn mit „Mindset-Workshops“ und noch mehr Kommunikation wegzutherapieren. Ein Fehler.

Zynismus ist in diesem Kontext kein Charakterfehler. Er ist ein somatischer Marker. Er ist ein intelligentes, körperliches Warnsignal, das auf die Inkohärenz der Umgebung reagiert. Der Körper der Organisation spürt die Lüge, lange bevor der Verstand sie in Worte fassen kann.

Mitarbeiter:innen, die zynisch auf Purpose-Statements reagieren, sind oft diejenigen mit der höchsten Realitätsbindung. Sie sind nicht toxisch; sie sind die unbewussten Hüter:innen der Wahrheit. Sie verteidigen ihre geistige Gesundheit gegen den Double Bind der Führung.

Der Test für deine Organisation

Ob dein Purpose real oder Simulation ist, siehst du an drei Orten, wo es weh tut (Skin in the Game):

  1. Das Budget: Wofür gibst du Geld aus? Geld ist gefrorene Priorität.
  2. Die Zwänge: Was lehnst du ab, selbst wenn es Profit kostet? Identität definiert sich durch das Nein.
  3. Das wiederholte Verhalten: Das konsistente Muster über die Zeit.

Findest du deinen Purpose hier nicht, ist er Fiktion.

Das Immunsystem der Identität

Warum ändern Organisationen ihr Verhalten nicht, obwohl sie einen neuen Purpose deklarieren?

Weil Systeme eine Immunity to Change besitzen. Diese Immunität wird nicht durch bösen Willen aufrechterhalten, sondern durch verborgene, konkurrierende Commitments, die oft dem reinen Selbsterhalt oder dem Status quo dienen.

Der neue Purpose („Wir sind innovativ“) aktiviert das Immunsystem des alten Systems („Wir dürfen keine Fehler machen“). Solange diese konkurrierenden Commitments im Dunkeln bleiben, wird der Purpose immer an der unsichtbaren Mauer der Systemphysik zerschellen.

Grand Strategy ist die Arbeit an dieser Physik. Sie ist die dauerhafte Identität der Organisation. Im Sinne der Kybernetik ist das „System 5“: Die Identität und der Ethos, die die ultimativen Grenzen dessen setzen, was die Organisation werden wird.

Eine Grand Strategy:

  • verankert Prinzipien in der Realität,
  • definiert eine minimal-viable Ethik,
  • schafft Kohärenz zwischen Absicht und Handlung.

Eine präzise Definition:

Grand Strategy ist dauerhafte Identität, Ethos und ermöglichende Zwänge.

Strukturelle Kopplung mit der Realität

Strategie ist nicht das Dokument. Strategie ist die Art und Weise, wie sich deine Organisation an ihre Umwelt koppelt. Eine Arbeitsdefinition für das Feld:

Strategie ist der fortlaufende Akt der Orientierung – wie eine Organisation interpretiert, adaptiert und agiert, um Vorteile zu sichern und Viabilität zu erhalten.

Es geht um den OODA-Loop (Observe, Orient, Decide, Act). Die meisten Organisationen scheitern nicht beim Entscheiden oder Handeln. Sie scheitern bei der Orientierung.

Ihr „Start with Why“ verzerrt ihre Beobachtung. Sie sehen nicht das Terrain, wie es ist, sondern wie ihr Narrativ es verlangt. Sie filtern Signale, die nicht zum Purpose passen, als Rauschen aus, bis die Realität so laut wird, dass sie das System bricht.

Strategie funktioniert durch:

  • Exploration: Kleine Experimente, die das Terrain testen (Antifragilität nutzen).
  • Affordanzen: Was die Umgebung dir jetzt ermöglicht, nicht was du dir wünschst.
  • Beschränkungen: Was du durchsetzt, um viabel zu bleiben.

Das Gift von „Start With Why“

„Start With Why“ verführt dazu, die Identität als Marketing-Übung zu betrachten. Es suggeriert, wir könnten Identität am Reißbrett entwerfen, ohne die Komplexität der gewachsenen Strukturen zu würdigen.

Purpose, in dem Sinne, der zählt, ist kein Startpunkt. Er ist eine Beschreibung dessen, was die Organisation durch wiederholte Interaktion mit ihrer Umwelt geworden ist.

Wenn Führungskräfte mit einer idealisierten Zukunft und einem gebastelten „Warum“ beginnen, passieren drei Dinge:

  1. Simulation statt Referenz: Die Geschichte ersetzt die Realität.
  2. Verengter Zukunftsspeicher: Sie fixieren sich auf eine imaginierte Trajektorie und werden blind für Affordanzen.
  3. Kollaps der Agency: Mitarbeiter:innen spüren, dass ihre Handlungen keinen Einfluss auf das Narrativ haben, und schalten ab.

Fang mit der Realität an

Wenn Purpose-Statements deine Leute zynisch machen, dann nicht, weil sie Sinn hassen. Sondern weil ihre somatischen Marker Alarm schlagen. Sie hassen die Dissonanz. Der Weg nach vorne sind nicht bessere Slogans. Es ist die Auflösung der Simulation.

Fang hier an:

  • Was die Organisation tatsächlich tut (POSIWID).
  • Was die Umgebung tatsächlich tut (Marktrealität).
  • Was dir aktuell an Möglichkeiten offensteht (Affordanzen).
  • Was du strukturell jetzt ändern kannst (System-Design).

Von dort aus kannst du deine wirkliche Grand Strategy sehen: die Identität, die bisher verdient wurde. Vielleicht gefällt sie dir nicht. Das ist der Punkt. Das gibt dir etwas Reales, mit dem du arbeiten kannst.

Dann kannst du Strategie als Manöver entwerfen: spezifische, testbare Züge, die Dispositionen verschieben. Identität folgt der Aktion. Aktion folgt der Orientierung. Orientierung folgt der Realität.

Ein Purpose in diesem Kontext ist keine Fabrikation. Er ist die Beschreibung eines Systems, dessen Zweck in dem sichtbar wird, was es konsequent tut. Das ist der einzige Purpose, der es wert ist, verfolgt zu werden.