PR 49: Protokoll der Annahme
„Jede Katastrophe beginnt immer mit einer Annahme.“
Das ist die Stimme des Operators nach dem Debriefing. Es ist die kalte, klare Erkenntnis, nachdem die Realität die sorgfältig gezeichnete Karte zerrissen hat.
Die Stimme des Glitches klingt anders. Sie operiert nicht post-mortem, sondern präventiv-sabotierend. Im Planungsstab, wenn die Komplexität unerträglich wird, flüstert sie: „Wir können davon ausgehen, dass …“, „Höchstwahrscheinlich wird der Kunde …“, „Normalerweise reagiert der Markt …“.
Jede dieser Phrasen ist ein Beruhigungsmittel. Eine Injektion kognitiver Weichmacher. Dein internes System 1 greift nach der schnellsten, energieärmsten Lösung, um die quälende Unsicherheit zu beenden. Es ist der Versuch, die unerträgliche Spannung der offenen Fragen durch einen selbst verabreichten, emotionalen Kurzschluss aufzulösen – ein falsches, aber beruhigendes somatisches Signal der Kohärenz.
Annahmen sind die unsichtbaren Axiome deines Weltbildes, die du als Fakten behandelst. Sie sind der Kitt, der die Risse in deinem mentalen Modell der Realität füllt, die Patches in deiner Orientation. Der Glitch liebt diese Annahmen, denn sie sind der Pfad des geringsten Widerstands. Sie optimieren auf kurzfristige Energieersparnis und soziale Harmonie, denn das Infragestellen gemeinsamer Annahmen ist ein hochriskantes Status-Spiel. Es ist oft sicherer für das eigene Überleben im Stamm, mit der Gruppe falschzuliegen, als allein recht zu haben.
Ein Capable Agent versteht das. Er behandelt Annahmen nicht als harmlose Vereinfachungen, sondern als unbestätigte Hypothesen. Kritische Risikofaktoren. Offene Flanken in der eigenen Orientation, die nur darauf warten, von einem unvorhergesehenen Ereignis, einem „schwarzen Schwan“, überrannt zu werden.
Das folgende Protokoll ist keine Aufforderung zu endloser Paranoia. Es ist eine operative Disziplin zur systematischen Härtung der eigenen Wahrnehmung – ein Manöver, um Signal von Rauschen zu trennen.
Das Protokoll
1. Key Assumptions Check
Jede Planungsphase, jedes Projekt, jede wichtige Entscheidung startet mit einer expliziten Inventur. Externalisiere das interne Betriebssystem: Welche Annahmen müssen wahr sein, damit dieser Plan erfolgreich ist? Jedes „Wir gehen davon aus, dass …“, jedes „Sicherlich wird …“ ist ein Eintrag auf dieser Liste. Sei unerbittlich. Grabe nach den impliziten, ungesagten Überzeugungen, die das gesamte Fundament tragen.
2. Triage & Fragilitäts-Assessment
Nicht alle Annahmen sind gleich. Teile die Liste in drei operative Kategorien:
- Axiome: Die fundamentalen Annahmen, die du treffen musst, um überhaupt handlungsfähig zu sein. („Die Schwerkraft funktioniert auch morgen noch.“). Akzeptieren, markieren, aber im Bewusstsein behalten.
- Testbare Hypothesen: Alle anderen. Dies sind die Annahmen, deren Validität überprüft werden kann.
- Fragile Hypothesen: Eine Untergruppe der testbaren Hypothesen, die eine asymmetrische, potenziell katastrophale Auswirkung hat, falls sie sich als falsch erweist. Diese Annahmen machen dein System fragil. Sie sind die primären Ziele für die nächste Phase.
3. Falsifizierungs-Manöver
Behandle jede fragile und testbare Hypothese als einen Gegner, der eliminiert werden muss. Das Ziel ist nicht die Bestätigung der Annahme, sondern der aktive, aggressive Versuch, sie zu zerstören. Dies ist ein Red Team-Einsatz gegen deine eigenen Pläne. Formuliere die operative Frage: „Was ist der schnellste, billigste, eleganteste Test, um diese Annahme zu pulverisieren?“ Ein gezielter Anruf ist schneller als eine Woche Hoffen. Ein roher Prototyp ist billiger als ein gescheitertes Produkt. Das ist der „Destruction“-Teil von Boyds kreativem Prozess: Zerstöre deine fehlerhaften mentalen Modelle, bevor es die Realität für dich tut.
4. Konvertierung in Eventualitäten
Jede Annahme, die das Falsifizierungs-Manöver überlebt, wird nicht zum Fakt befördert. Sie wird in eine Eventualität konvertiert. Das Vokabular wechselt von Sicherheit zu Wahrscheinlichkeit.
- Die Glitch-Formulierung lautet: „Wir nehmen an, der Lieferant liefert pünktlich.“
- Die Operator-Formulierung lautet: „Wir operieren unter der Annahme einer pünktlichen Lieferung, bewerten die Wahrscheinlichkeit auf 80 % und haben das Risiko einer Verzögerung als Eventualität mit Plan B und Plan C abgesichert.“
Diese Konvertierung ist der Kern der Auftragstaktik: Sie schafft Handlungsspielraum und Resilienz an der Front, anstatt auf einen starren, fragilen Plan zu vertrauen.
Die soziale Barriere
Die größte Hürde für dieses Protokoll ist nicht kognitiver, sondern sozialer Natur. In einer Organisation ist die unsichtbare, primäre Direktive oft die Aufrechterhaltung der sozialen Kohäsion. Das offene Infragestellen von Annahmen, insbesondere die eines Vorgesetzten, ist ein Verstoß gegen diese Direktive. Es kann als Misstrauen, Inkompetenz oder Angriff interpretiert werden.
Hier zeigt sich die Immunity to Change des Systems: Die Gruppe sagt, sie will robuste Pläne (bewusstes Ziel), aber sie bestraft gleichzeitig das Verhalten, das dafür notwendig wäre (verborgene Gegen-Verpflichtung zur Harmonie).
Ein Operator muss das Operationsgebiet lesen. Manchmal erfordert das den Aufbau von psychologischer Sicherheit und Vertrauen, um die Gruppe zur gemeinsamen Falsifizierung einzuladen. Manchmal erfordert es, das soziale Risiko bewusst einzugehen und die Konsequenzen zu tragen. Und manchmal erfordert es verdeckte Operationen, um eine Annahme zu testen, ohne die soziale Stabilität des Systems offen herauszufordern.
Dieses Protokoll richtet sich gegen die faulen, unbewussten Abkürzungen. Verwechsle eine bequeme Annahme jedoch nicht mit der teuer erkauften Intuition eines erfahrenen Operators. Dessen Fähigkeit, bessere Annahmen schneller als der Gegner zu treffen, ist eine strategische Waffe. Das ist keine Bequemlichkeit, sondern das Ergebnis tausender Stunden im Feld – komprimierte Erfahrung, die als Antizipation erscheint. Der Glitch nutzt Annahmen, um die Realität zu vermeiden. Der Operator nutzt seine geschärfte Intuition, um sie schneller zu modellieren.
Die Doktrin lautet nicht, ohne Annahmen zu operieren. Das ist unmöglich. Die Doktrin lautet:
„Bereite dich übermäßig vor und behandle dann deine verbleibenden Annahmen als aktive Bedrohungen.“
Das ist der Unterschied zwischen einem Plan, der auf Hoffnung basiert, und einer Operation, die auf Eventualitäten vorbereitet ist.