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Die Buchhalterin war gegangen. Oder zurückgekehrt. Die Richtungen verschwammen, wenn man nicht wusste, wo die Mitte war.
Der Fährmann stand wieder am Steg. Er hatte keine Erinnerung daran, dorthin zurückgekehrt zu sein, aber hier war er. Die Fähre lag vertäut daneben, als hätte sie sich nie bewegt. Das Seil, das sie hielt, war morsch und neu zugleich – ein Paradox, das hier niemanden störte.
Er griff in seinen Beutel. Die Münzen klirrten nicht. Sie hätten klirren sollen, Metall gegen Metall, aber sie gaben nur ein dumpfes Nichts von sich, wie Echos, die vergessen hatten, worauf sie antworteten.
Klack. Klack.
Neue Schritte. Schwerer diesmal. Ein Mann, breitschultrig, noch in der Illusion von Masse gefangen. Seine Hände waren groß, Arbeiterhände. Sie hielten die Münze, als könnte sie zerbrechen.
„Ich war Uhrmacher“, sagte der Mann, bevor der Fährmann fragen konnte. „Ich habe Zeit in Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt.“
Der Fährmann nahm die Münze. Sie war identisch mit allen anderen und doch anders. Oder anders und doch identisch. Die Kategorien flossen ineinander.
„Die Zeit“, sagte der Fährmann. „Gibt es sie hier?“
„Es gibt die Erinnerung an Zeit. Das Ticken ohne Uhr.“
Der Mann stieg in die Fähre. Seine Bewegungen waren präzise, mechanisch, als folgte er einem Uhrwerk, das nicht mehr lief.
„Die Buchhalterin“, sagte der Fährmann, während er die Stange ins Wasser tauchte. „Sie ist zu den Lebenden zurück.“
„Ich weiß. Ich habe sie gesehen. Halb hier, halb dort. Sie hat versucht zu sprechen, aber die Lebenden haben nur ihre Lippen bewegt gesehen.“
„Keine Botschaft?“
„Oh, doch. Eine Botschaft. Aber nicht in Worten. In … Verschiebungen. Die Lebenden haben angefangen, nach dir zu fragen. Nach dem Fährmann, der nicht ganz tot ist.“
Der Fährmann spürte etwas in sich. War es Hoffnung? Oder nur die Erinnerung an die Form, die Hoffnung einmal angenommen hatte?
„Und? Kennen sie mich?“
Der Uhrmacher lachte. Es war ein seltsames Geräusch, wie das Schlagen einer Uhr, die rückwärts lief.
„Sie kennen Geschichten. Von einem, der an zwei Orten zugleich war. Der starb, während er lebte. Der lebte, während er starb. Aber die Geschichten widersprechen sich.“
„Erzähl sie mir.“
Die Fähre glitt durch den Nebel. Der Uhrmacher zog etwas aus seiner Tasche – eine Uhr ohne Zeiger.
„Die erste Geschichte: Du warst ein Kaufmann. Du hast mit Dingen gehandelt, die keinen Wert hatten, sie aber teuer verkauft. Du warst sehr erfolgreich. Eines Tages hast du beschlossen, dich selbst zu verkaufen. Das war dein Meisterstück. Aber der Käufer – und hier wird es kompliziert – wollte nur die Hälfte. Die profitable Hälfte. Also bist du halb gestorben. Die andere Hälfte blieb übrig. Wie ein Restposten.“
Der Fährmann versuchte, sich zu erinnern. Kaufmann? Die Münzen in seinem Beutel fühlten sich plötzlich schwerer an. Oder leichter. Oder wie Schulden.
„Die zweite Geschichte: Du warst ein Philosoph. Du hast so lange über den Tod nachgedacht, bis du vergessen hast zu leben. Aber der Tod hat dich auch nicht ganz genommen, weil du zu beschäftigt warst, ihn zu analysieren. Du bist gestorben, während du noch über das Sterben nachdachtest. Und jetzt denkst du immer noch. Das ist deine Hölle. Oder dein Himmel. Niemand kann das unterscheiden, nicht einmal du.“
Philosoph? Der Fährmann dachte an die endlosen Überfahrten, die immer gleichen Fragen, die nie Antworten fanden. Vielleicht. Oder vielleicht war das nur eine weitere Frage.
„Die dritte Geschichte“, der Uhrmacher hielt inne, „ist die seltsamste. Oder die wahrste. Oder beides.“ Er drehte seine zeigerlose Uhr. „Du warst niemand. Nicht im metaphorischen Sinn. Wörtlich niemand. Ein leerer Platz in der Welt, eine Lücke in der Realität, die so groß wurde, dass sie eine Form annahm. Die Form eines Fährmanns. Aber weil du nie ganz jemand warst, konntest du auch nie ganz sterben. Du bist die Abwesenheit, die sich selbst ausfüllt.“
Der Fährmann spürte etwas. Oder spürte die Abwesenheit von etwas. Es war dasselbe.
„Welche stimmt?“
„Alle. Keine. Das ist das Problem mit Geschichten über dich – sie sind wie diese Münzen. Kopien ohne Original.“
Der Fährmann ließ die Stange los. Sie trieb nicht davon, blieb einfach im Wasser stehen, als hätte sie vergessen, was Strömung war.
„Ich erinnere mich an einen Spiegel“, sagte er plötzlich. „Einen Spiegel, in dem ich mich sehen wollte. Aber das Bild …“
„War nicht da?“
„War doppelt. Ich sah mich sterben und leben zugleich. Und ich wollte … ich wollte wissen, welcher echt war.“
Der Uhrmacher nickte. „Also hast du angefangen zu handeln. Mit den Toten.“
„Ich schicke sie zurück. Kurz. Sie sollen … sie sollen schauen.“
„Nach was?“
Der Fährmann griff wieder nach der Stange. Seine Hände – die eine tot, die andere lebendig, oder beide halb – zitterten.
„Nach mir. In den Spiegeln der Lebenden. Ob ich dort bin. Ob ich echt bin.“
„Und?“
„Sie kommen zurück. Immer. Mit Geschichten. Aber nie mit der Wahrheit.“
Der Uhrmacher hielt seine zeigerlose Uhr hoch. „Weißt du, was das Problem mit der Zeit ist?“
Der Fährmann schüttelte den Kopf.
„Sie existiert nur, wenn man nicht hinschaut. Sobald man versucht, den Moment zu greifen, ist er schon vorbei. Oder noch nicht da.“
„Wie der Tod.“
„Wie das Leben.“
„Wie ich.“
Sie schwiegen. Die Fähre hatte aufgehört, sich zu bewegen. Oder bewegte sich so langsam, dass Stillstand und Bewegung ununterscheidbar wurden.
„Ich könnte zurückgehen“, sagte der Uhrmacher. „Zu den Lebenden. Nach dir fragen.“
„Was würde das ändern? Du würdest zurückkommen mit einer weiteren Geschichte. Einer weiteren Kopie von mir, die nicht ich bin.“
„Vielleicht. Oder vielleicht würde ich die Wahrheit finden.“
„Die Wahrheit?“ Der Fährmann lachte, ein hohles Geräusch. „Was ist die Wahrheit über jemanden, der nicht weiß, ob er tot oder lebendig ist?“
„Dass er beides ist. Und keines.“
Der Fährmann sah auf das Wasser. Es spiegelte nichts. Nicht den Nebel, nicht die Fähre, nicht ihn. Es war Wasser, das nur die Idee von Wasser war.
„Weißt du, was ich glaube?“, sagte der Uhrmacher. „Ich glaube, du hast dich selbst überfahren. Immer wieder. Hin und her. Bis du nicht mehr wusstest, an welchem Ufer du warst.“
„Und jetzt?“
„Jetzt bist du der Fluss.“
Der Fährmann erstarrte. Oder versuchte es. Aber Wasser kann nicht erstarren, nur gefrieren, und er war zu warm dafür. Zu kalt. Zu nichts.
Der Fluss. Nicht der, der übersetzt, sondern das, worüber gesetzt wird. Die Grenze selbst, nicht der Grenzgänger.
Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Wasser kann nicht sprechen. Es kann nur murmeln, gurgeln, flüstern. Er hörte sich selbst, ein leises Plätschern, das versuchte, Worte zu formen.
„Nein,“ gurgelte er. Oder: „Ja.“ Das Wasser konnte den Unterschied nicht hören.
„Die Münzen“, flüsterte er. „Sie bezahlen nicht für die Überfahrt.“
„Sondern?“
„Sie bezahlen dafür, dass ich die Grenze bin. Dass ich den Übergang möglich mache, indem ich selbst der Übergang bin.“
Der Uhrmacher stand auf. Die Fähre schwankte nicht.
„Ich gehe zurück“, sagte er. „Aber nicht für dich. Sondern um den Lebenden zu sagen, dass ihr Fährmann vergessen hat, dass er der Fluss ist.“
„Warum?“
„Weil sie auch vergessen haben. Sie denken, der Tod ist ein Ufer, das man erreicht. Nicht ein Fluss, den man selbst ist.“
Der Fährmann wollte protestieren, aber die Worte lösten sich auf, bevor sie seinen Mund erreichten. Der Uhrmacher wurde durchsichtiger, begann zu flimmern wie Hitze über Asphalt – aber es gab keinen Asphalt hier, keine Hitze, nur die Erinnerung an Metaphern.
„Warte“, rief der Fährmann. Seine Stimme war jetzt nur noch ein Gurgeln, ein Blubbern. „Wie soll ich mich erinnern, wenn ich der Fluss bin? Flüsse haben kein Gedächtnis!“
Der Uhrmacher war schon halb verschwunden. Seine Beine waren durchsichtig, seine Brust flimmerte wie Hitze über Asphalt. Nur sein Gesicht war noch fest, und es lächelte.
„Doch“, sagte er. Seine Stimme kam von überall und nirgends. „Sie haben Sedimente. Schichten über Schichten von dem, was sie mit sich trugen.“
Und dann war er fort. Nicht verschwunden. Ausgelaufen. Wie Tinte in Wasser. Der Fährmann konnte ihn noch schmecken. Metall und Zeit und etwas, das nach Abschied schmeckte.
Der Fährmann stand allein auf der Fähre. Oder saß. Oder lag. Die Positionen flossen ineinander wie …
Wie Wasser.
Er sah auf seine Hände. Sie waren nass. Aber nicht vom Spritzwasser. Die Haut war durchsichtig geworden, und darunter war kein Fleisch, kein Knochen. Nur Wasser. Dunkles, träges Wasser, das sich in der Form von Händen erinnerte.
Er versuchte, eine Faust zu machen. Das Wasser gehorchte. Dann vergaß es wieder und tropfte zwischen seinen Fingern hindurch. Aber die Finger waren noch da. Oder die Idee von Fingern.
Er roch sich selbst. Schlamm und Verwesung und etwas Süßes, das er nicht benennen konnte.
Der Beutel mit den Münzen fiel durch ihn hindurch. Oder er fiel durch den Beutel. Die Münzen sanken ins Wasser, das er war. Jede einzelne sang, als sie fiel. Ein hoher, klarer Ton, wie das Läuten einer Glocke, die nie geschlagen wurde.
Er versuchte, eine zu fangen. Seine Hand schloss sich um sie, aber die Münze war schon in seiner Hand. Nicht in seiner Handfläche. In der Substanz seiner Hand. Er konnte sie sehen, durch seine durchsichtige Haut, wie ein verschluckter Mond.
Und jede Münze war eine Erinnerung. An einen Handel. An eine Überfahrt. An einen Toten, der zurückging.
Er sah sie jetzt, die Münzen, wie sie durch ihn hindurchsanken. Jede trug ein Gesicht. Nicht geprägt. Gefangen. Kleine, verzerrte Gesichter, die schrien oder lachten oder einfach nur starrten. Die Buchhalterin. Der Uhrmacher. Tausende andere, die er vergessen hatte.
Aber nicht seine Erinnerungen.
Ihre.
Er war das Medium ihrer Erinnerungen geworden. Der Fluss, der ihre Geschichten trug, ohne seine eigene zu kennen. Ein Archiv ohne Archivar.
Klack.
Neue Schritte auf dem Steg.
Aber wer führte jetzt die Fähre?
Er versuchte sich zu bewegen, Form anzunehmen, Fährmann zu sein. Aber er war zu sehr Fluss geworden. Zu sehr die Grenze, um sie noch überqueren zu können.
Und dann sah er es: Die Fähre bewegte sich trotzdem. Ohne ihn. Oder mit ihm. Er war die Fähre. Nein, er war das Wasser, das die Fähre trug. Nein, er war die Bewegung selbst.
Die Stange stand aufrecht im Wasser, niemand hielt sie. Aber sie bewegte sich trotzdem, stieß sich ab von einem Grund, den es nicht gab. Die Fähre führte sich selbst. Sie hatte ihn nie gebraucht.
Das war das Schlimmste. Nicht, dass er sich auflöste. Sondern dass es keinen Unterschied machte.
„Ich muss jemanden finden“, hörte er sich sagen. Aber die Stimme kam nicht aus seinem Mund. Sie kam aus dem Wasser. Aus allen Richtungen zugleich.
Panik. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten: Panik. Nicht die Idee von Panik, sondern echte, viszerale Panik. Sein Herz schlug – aber er hatte kein Herz mehr. Sein Atem beschleunigte sich – aber er atmete nicht mehr.
Das Wasser atmete für ihn. Schnell, flach, verzweifelt.
Die Schritte kamen näher. Und mit ihnen eine Stimme. Jung. Alt. Beides.
„Ich suche den Fährmann, der nicht ganz tot ist.“
Und der Fährmann, der jetzt Fluss war, der jetzt Grenze war, der jetzt weder tot noch lebendig sondern der Raum dazwischen war, versuchte zu antworten.
Aber Flüsse sprechen nicht.
Sie fließen nur.
Ende Akt II.
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