FN 39: Wenn der Glitch zum Code wird
Feldnotiz
Wir erleben die Entkopplung einer strategischen Klasse von der Realität der Systeme, die sie steuert. Das ist kein moralisches Versagen. Es ist ein Glitch
im Betriebssystem der Macht.
Du spürst ihn als eine konstante Dissonanz. Du siehst, wie politische Entscheidungen und Kapitalströme einer Logik folgen, die nicht mehr menschlich ist. Sie dient nicht den Interessen von Bürger:innen, Gemeinschaften oder Nationen. Sie dient der Selbsterhaltung und -vermehrung des Kapitals selbst, das als autonomer, nicht-menschlicher Akteur im System agiert.
Das ist kein Geheimnis, das in dunklen Archiven verborgen liegt. Es ist eine physikalische Eigenschaft des gegenwärtigen Systems, sichtbar für jede:n, der oder die bereit ist, die offiziellen Narrative als das zu behandeln, was sie sind: die Benutzeroberfläche, nicht der Quellcode.
Der Glitch wird Code
Die Logik dieses Systems erzeugt vorhersagbare Manöver, die oft eine doppelte Funktion haben: Sie sind gleichzeitig systemische Optimierung und nachrichtendienstliche Operation.
- Die Konsolidierung der Machtzentren: Initiativen wie das „Project 2025“ sind aus einer Perspektive der logische Versuch eines Betriebssystems, seine Kernfunktionen zu zentralisieren. Demokratische Prozesse erscheinen hier als Reibungsverlust. Aus einer anderen Perspektive sind solche öffentlichen Pläne auch Akte der Signalisierung. Sie demonstrieren Entschlossenheit gegenüber Rivalen und können als Täuschungsmanöver dienen, das die Aufmerksamkeit von verdeckten Operationen ablenkt.
- Die Aufrüstung des Narrativs: Die Entwicklung von KI-gesteuerten autonomen Waffensystemen verläuft parallel zur Entwicklung von KI-gesteuerten narrativen Waffen. Wer die Deutungshoheit über die Realität kontrolliert, kontrolliert das Terrain, bevor der erste Schuss fällt. Die KI ist hier nicht nur Werkzeug, sie ist die nächste Evolutionsstufe des
Glitch
: ein sich selbst optimierendes System zur Unterdrückung abweichender Signale. - Die Externalisierung der Kosten: Wenn ein System auf unendliches Wachstum in einer endlichen Welt ausgelegt ist, werden menschliches Leid, soziale Verwerfungen und ökologischer Kollaps zu bilanziellen Externalitäten. Eine „Marktkorrektur“.
Doch ein System unter Stress agiert nicht nur nach kalter Logik. Seine Manöver können auch Zeichen von Panik sein, getrieben von internen Machtkämpfen oder irrationalen Ängsten. Diese Pathologien sind keine Abweichung vom Plan – sie sind eine eigene Angriffsfläche. Sie zu erkennen, bedeutet, die Hebelpunkte zu finden, an denen das System gegen seine eigene Logik agiert.
Die Lähmung der Agent:innen
Der primäre Effekt dieses systemischen Glitches
ist nicht der bevorstehende Kollaps. Es ist die Lähmung der handlungsfähigen Akteur:innen hier und jetzt.
Das System erzeugt eine Realität, die so komplex, widersprüchlich und überfordernd erscheint, dass strategisches Handeln unmöglich wird. Die Folge ist eine kollektive Regression in einfachere Weltbilder: Anklage, Zynismus, Flucht in Ideologien oder die Hoffnung auf eine:n Retter:in. All das sind Manöver der Selbstentwaffnung. Symptome für den Verlust von Agency
– der Fähigkeit, die eigene Absicht wirksam in das System einzuspeisen, anstatt von ihm verbraucht zu werden.
Die Wahrheit muss nicht unterdrückt werden, wenn die fähigsten Leute damit beschäftigt sind, sie in Endlosschleife zu beklagen, anstatt die Systemphysik zu verstehen und sie zu nutzen.
KI als Spiegel und Verstärker
Künstliche Intelligenz ist in diesem Kontext nicht primär ein Werkzeug der Zensur. Sie ist ein fast perfekter Spiegel des Glitches
.
- Ein LLM, trainiert auf den dominanten Narrativen, wird diese Narrative reproduzieren und als „sicher“ und „neutral“ kennzeichnen. Er wird die unsichtbaren Regeln des Systems nicht nur befolgen, sondern sie als die einzig gültige Realität darstellen.
- Er wird Korrelationen aufzeigen, aber die Kausalität scheuen, wenn sie mächtige Akteur:innen betrifft. Er wird „beide Seiten“ beleuchten, auch wenn eine Seite das Spielfeld besitzt und die Regeln schreibt.
Doch hier liegt der paradoxe Hebel:
Ein System, das derart auf narrative Kontrolle angewiesen ist, offenbart seine größten Schwachstellen. Die Notwendigkeit, abweichende Daten als „Verschwörungstheorie“ oder „Fehlinformation“ zu brandmarken, ist selbst ein Signal. Es ist die Immunreaktion des Systems auf eine Inkompatibilität.
Die dezentrale Verbreitung von unzensierten Modellen ist eine operative Realität. Der Glitch
kann nicht mehr vollständig contained werden. Das Problem ist also nicht, ob die Wahrheit ans Licht kommt.
Die Herausforderung liegt darin, wer die kognitiven Werkzeuge besitzt, um aus dieser Wahrheit handlungsfähige Strategien abzuleiten, anstatt im Rauschen unterzugehen.
Der nächste Zug
Wir befinden uns nicht in einem Kampf um die Wahrheit. Wir befinden uns in einem Wettlauf um die Fähigkeit zur Komplexitätsverarbeitung.
Die Betreiber:innen des Systems müssen die Komplexität nicht mehr verbergen. Sie müssen sie nur schneller und effektiver nutzen als du. Sie müssen dich im Lärm ertränken, dich mit widersprüchlichen Signalen fragmentieren und deine Agency
in zynischer Passivität auflösen.
Auch wenn du das Spiel schon siehst: Verstehst du seine Physik gut genug, um einen eigenen Zug zu machen – um eine Entscheidung zu treffen, die nicht auf der Agenda deiner Konkurrenz stand, oder eine Ressource so umzulenken, dass sie eine unvorhergesehene Kaskade auslöst?