FN 79: Die Zelle optimieren oder das Gefängnis verlassen

Feldnotiz

Du tust das Richtige. Du installierst Linux auf einem reparierbaren Laptop. Du kuratierst deinen Informationsfluss über RSS, um den Algorithmen zu entgehen. Du verlagerst deine Kommunikation auf Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messenger. Du baust dir eine digitale Festung aus bewussten, ethischen Entscheidungen gegen die zunehmende Enshittification.

Diese Disziplin ist wertvoll. Sie schafft einen Raum der Integrität und fühlt sich nach Kontrolle an. Doch in diesem Akt des persönlichen Widerstands liegt eine subtile Falle. Es ist eine unangenehme Wahrheit, die den Kern dieser Anstrengungen aushöhlt: Deine individuellen Entscheidungen allein werden das System nicht ändern.

Du optimierst deine Zelle, aber du verlässt das Gefängnis nicht. Schlimmer noch: Du fängst an, die Mauern deines selbstgebauten Käfigs aus Prinzipien für die Grenzen der Welt zu halten. Das ist die eigentliche Falle: Die Konzentration auf die Perfektionierung des eigenen Verhaltens lässt dich die Architektur des Gesamtsystems aus den Augen verlieren.

Das ist der eigentliche Glitch. Enshittification ist kein Ergebnis schlechter individueller Entscheidungen, sondern das logische Resultat eines Betriebssystems, dessen Regeln geändert wurden.

Die Mechanik ist bekannt:

  1. Plattformen sind gut zu ihren Nutzer:innen.
  2. Sie missbrauchen ihre Nutzer:innen, um ihren Geschäftskund:innen zu dienen.
  3. Sie missbrauchen ihre Geschäftskund:innen, um den gesamten Wert für sich selbst zu extrahieren.

Die wirklich interessante Frage ist aber nicht das Was, sondern das Warum. Die Enshittification ist die sichtbare Konsequenz einer unsichtbaren Entscheidung: der systematischen Demontage von Wettbewerb. Monopole und Kartelle müssen sich nicht um den Verlust von Kund:innen oder Mitarbeiter:innen sorgen. Sie können ihre Regulierungsbehörden vereinnahmen und jede technologische Innovation, die ihre Angebote ent-shittifizieren würde, juristisch abwürgen.

In diesem System wird dein individueller Boykott von einem potenziellen Manöver zu einer statistischen Anomalie degradiert, die das System mühelos absorbiert. Du kannst der Datensammlung durch Meta entgehen, aber wenn die einzige Möglichkeit, dein Kind zum Sport zu bringen, der Beitritt zur WhatsApp-Gruppe der Fahrgemeinschaft ist, wirst du bluten. Du wirst zum Protest gegen Amazon gehen, aber wenn du dafür eine Stunde länger brauchst, weil du den Karton für dein Schild bei einem unabhängigen Händler kaufen wolltest, hast du die entscheidende strategische Ressource verloren: Zeit und Energie für den Kampf auf der Ebene, wo die Regeln gemacht werden.

Die Isolation, die aus einem rigiden Festhalten an diesen Prinzipien folgt, offenbart sich als das Ergebnis einer erfolgreichen psychologischen Operation, nicht als Zeichen von Stärke. Sie ist das Ergebnis einer erfolgreichen psychologischen Operation, deren Code vor 40 Jahren von Margaret Thatcher geschrieben wurde: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.“

Diese hypnotische Suggestion ist der brillanteste Schachzug, um kollektive Handlungsfähigkeit zu deaktivieren. Er verlagert ein systemisches Problem in die individuelle Verantwortung und zwingt dich auf ein Spielfeld, auf dem du nur verlieren kannst. Du sollst dich für deinen CO₂-Fußabdruck schämen, während die Architekten des Systems die Regeln für Energie und Industrie diktieren.

„So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht“ ist der Satz, den jene sagen, die am meisten von der existierenden Gesellschaft profitieren und sicherstellen wollen, dass sich daran nichts ändert.

Systemische Probleme erfordern systemische Lösungen. Diese entstehen nicht durch individuelle Perfektion, sondern durch kollektive Aktion: durch das Schmieden von Allianzen, durch die Nutzung juristischer Hebel, durch politische Organisation. Durch das bewusste Überschreiten der Grenzen der eigenen, optimierten Zelle, um sich mit anderen zu verbinden.

Der populäre Einwand gegen Analysen wie diese lautet oft: „Sie bieten keine einfachen, individuellen Handlungsempfehlungen.“ Das ist kein Mangel, sondern die eigentliche Botschaft.

Der Kampf gegen die Enshittification wird nicht auf dem Feld der persönlichen Tugend gewonnen. Er wird auf dem Feld der kollektiven Agency entschieden.

Dein Auftrag ist daher nicht die weitere Optimierung deiner Zelle.

Dein Auftrag ist es, die Architektur des Gefängnisses zu kartieren – und die Exploits zu finden, die seine Mauern zum Einsturz bringen.