Frontispiz für Thomas Hobbes „Leviathan“ (Abraham Bosse, 1651)Frontispiz für Thomas Hobbes „Leviathan“ (Abraham Bosse, 1651)

Im Oktober 2019 schoss Indien einen eigenen Satelliten ab. Eine von der Erde gestartete Rakete zerstörte das Ziel in dreihundert Kilometern Höhe. Premierminister Narendra Modi verkündete stolz: „Indien ist jetzt eine Weltraummacht.“ Dieser Status definierte sich nicht durch den Bau einer Raumstation oder eine bemannte Mission, sondern durch die demonstrierte Fähigkeit zur Zerstörung.

Das ist Astropolitik. Und sie unterscheidet sich grundlegend von allem, was wir bisher unter Geopolitik verstanden haben.

Geopolitik: die Logik der Erde

Die klassische Geopolitik seit dem neunzehnten Jahrhundert basiert auf einer simplen Prämisse: Geographie bestimmt das Schicksal. Wer die Meere kontrolliert, kontrolliert den Handel. Wer das „Heartland“ kontrolliert, kontrolliert Eurasien und damit die Welt.

Admiral Alfred Thayer Mahan formulierte das 1890 in The Influence of Sea Power upon History. Seine These: Das britische Empire dominierte, weil es die Meere und ihre strategischen Nadelöhre, die choke points (Straße von Malakka, Suezkanal, Gibraltar), kontrollierte. Halford Mackinder antwortete 1904 mit dem Konzept des Heartlands, der eurasischen Landmasse.

Das waren weniger Prophezeiungen als vielmehr Lesarten – Karten, um Macht zu verstehen. Sie basierten alle auf einer Konstante: der Erde. Eine feste Geographie aus Bergen, Meeren und Inseln bildete das stabile Schachbrett, auf dem Staaten als Spieler agierten.

Dann verließen wir die Erde.

Astropolitik: die Logik des Orbits

Der Weltraum ist kein leerer Raum. Das ist die erste Einsicht, die Everett C. Dolman 2002 in Astropolitik: Classical Geopolitics in the Space Age formulierte. Auch der Weltraum besitzt eine Geographie – anders als auf der Erde, aber dennoch mit eigenen Gesetzen.

Orbits funktionieren wie Meeresstraßen. Manche sind stabil (wie der geostationäre Orbit in 36.000 km Höhe für Kommunikation), andere sind niedrig (200–800 km, ideal für Aufklärung). Es gibt Strahlungsgürtel, die man meiden muss, und Lagrange-Punkte, an denen sich die Gravitation aufhebt – perfekte Orte für Stationen.

Dolman identifiziert vier Regionen: Terra (Erde), Earth Space (vom niedrigsten Orbit bis zum geostationären Orbit), Lunar Space (bis zum Mond) und Solar Space (alles darüber hinaus).

Seine an Mackinder angelehnte These lautet: „Wer den niedrigen Erdorbit kontrolliert, kontrolliert den erdnahen Raum. Wer den erdnahen Raum kontrolliert, dominiert die Erde. Wer die Erde dominiert, bestimmt das Schicksal der Menschheit.“

Diese strategische Analyse basiert auf der unbequemen Wahrheit, dass der Weltraum die ultimative Höhe darstellt. Wer von oben schießen kann, gewinnt. Wer die absolute Höhe kontrolliert, kann jeden Punkt auf der Erde jederzeit und ohne Vorwarnung erreichen.

Der Unterschied: warum Astropolitik nicht Geopolitik ist

Geopolitik stützt sich auf Konstanten, Astropolitik auf Variablen. Satelliten bewegen sich, Orbits verfallen, Weltraumschrott akkumuliert. Die „Geographie“ des Weltraums ändert sich ständig, weil wir sie durch unser Handeln verändern.

Zudem basierte Geopolitik auf dem Westfälischen System der Staaten. In der Astropolitik verschwimmen die Akteur:innen. SpaceX startet mehr Raketen und kontrolliert mehr Satelliten als alle Staaten zusammen. Die Grenzen zwischen staatlich und privat lösen sich auf.

Ein weiterer Unterschied liegt in den Ressourcen. Während Geopolitik oft Mangelverwaltung (Öl, Wasser) ist, bietet die Astropolitik theoretisch unendliche Ressourcen (Asteroiden-Platin, Mond-Wasser). Der Zugang zu diesen Ressourcen ist jedoch extrem knapp.

Das ist der Kern der Astropolitik: Der First Mover Advantage ist absolut. Wer zuerst den niedrigen Erdorbit kontrolliert, kann jeden anderen am Zugang hindern. Wer zuerst auf dem Mond ist, beansprucht die besten Basen. In der Geopolitik sind Aufholjagden möglich; in der Astropolitik, so Dolmans These, ist ein Rückstand vielleicht nie mehr aufzuholen.

Die Outer Space Treaty: ein Versuch, das Westfälische System zu verlängern

1967, mitten im Kalten Krieg, einigten sich die USA und die Sowjetunion auf den Weltraumvertrag: Weltraum als gemeinsames Erbe der Menschheit, keine Atomwaffen im Orbit, keine territoriale Aneignung, keine Militärbasen auf dem Mond.

Es war der Versuch, das Westfälische System auf Basis von Kooperation ins All zu verlängern. Das funktionierte, solange nur Supermächte die extrem teure Technologie besaßen. Doch diese Zeit ist vorbei.

Die Startkosten sind um neunzig Prozent gefallen. SpaceX startet und landet Raketen. Der Outer Space Treaty verbietet zwar territoriale Aneignung, schweigt aber zur kommerziellen Nutzung. Die Artemis Accords, von den USA initiiert, schaffen hier eine Lücke: Wer investiert, um eine Mine auf dem Mond zu finden, kann eine „Sicherheitszone“ erklären. Das ist zwar keine Souveränität, kommt ihr in der Praxis aber sehr nahe.

China und Russland erkennen die Accords nicht an und bauen ihre eigene Mondstation nach eigenen Regeln. Der Vertrag von 1967 wird irrelevant – weniger durch Kündigung als vielmehr durch die Überholung durch die Realität privater Akteur:innen.

Astropolitik in Aktion

Lesen wir die Muster – die Zeichen, die zeigen, dass Astropolitik längst keine Theorie mehr ist, sondern Praxis.

Anti-Satelliten-Waffen (ASAT)

2007 zerstörte China einen eigenen Satelliten, was 3.000 Trümmerteile erzeugte. 2019 tat Indien dasselbe. 2021 folgte Russland und zwang die ISS zu einem Ausweichmanöver. Das sind weniger militärische Notwendigkeiten als vielmehr Machtdemonstrationen: Wir können eure Satelliten zerstören.

Es ist die Drohung mit dem Kessler-Syndrom: eine Kaskade von Kollisionen, die den Orbit für Generationen unbrauchbar macht. Es ist die ultimative Denial-Strategie: Wenn ich den Weltraum nicht haben kann, kann ihn niemand haben.

Kommerzielle Akteur:innen als strategische Spieler

Obwohl kein Staat, führt SpaceX mehr Starts durch als der Rest der Welt kombiniert (98 im Jahr 2023). Das ist eine strategische Verschiebung, denn Zugang zum Weltraum bedeutet Macht.

Die USA starten ihre Spionagesatelliten auf SpaceX-Raketen. Das Pentagon kauft Starshield-Kapazität. Doch SpaceX gehört einem Mann mit eigenen außenpolitischen Positionen. Als Elon Musk entschied, Starlink über der Krim zu deaktivieren, traf er eine Entscheidung, die früher Staaten vorbehalten war. Das ist das neue Normal.

Der Mond als ökonomisches Schlachtfeld

Die USA planen mit dem Artemis-Programm (2026) eine permanente Mondbasis für den Bergbau. China und Russland planen dasselbe. Das Ziel sind Ressourcen: Das Wasser-Eis an den Polen ist potenzieller Raketentreibstoff (Wasserstoff/Sauerstoff). Wer Wasser auf dem Mond hat, muss es nicht teuer von der Erde hochschießen.

Hinzu kommen seltene Erden und Helium-3. Asteroiden sind der nächste Schritt. Ein einziger metallreicher Asteroid kann mehr Platin enthalten als je auf der Erde gefördert wurde. Wer zuerst dort ist, sichert sich den Gewinn.

Weltraum als Kriegsdomäne

Der Zweite Golfkrieg 1991 galt als der „erste Weltraumkrieg“, weil GPS, Aufklärung und Kommunikation über Satelliten liefen. Da moderne Armeen (NATO zu 90 %) von Satelliten abhängig sind, werden diese zwangsläufig zu Zielen.

Die USA haben ein United States Space Command, China die Strategische Unterstützungsstreitkraft, und Russland nutzt Pereswet, ein Laser-System, das Satelliten blenden kann. Der Outer Space Treaty verbietet zwar Massenvernichtungswaffen, aber keine konventionellen Waffen, Laser oder Cyber-Angriffe auf Satelliten. Die Lücken im Vertrag sind groß genug, um hindurchzufahren.

Das Kessler-Syndrom

Über 30.000 verfolgbare Objekte (und Millionen kleinere) rasen im Orbit. Jede Kollision erzeugt mehr Trümmer, die neue Kollisionen auslösen – eine Kaskade, bis der Orbit gesperrt ist.

Das ist die Tragödie der Allmende im Weltraum. Jeder hat einen Anreiz, schnell Satelliten zu starten, bevor die besten Orbits besetzt sind. Das Kollektiv leidet, aber der Einzelne profitiert – bis der Orbit unbenutzbar ist und die moderne Zivilisation, die auf Satelliten basiert, kollabiert.

Geopolitik vs. Astropolitik: was sich ändert

Geopolitik drehte sich um die Kontrolle von Raum; Astropolitik dreht sich um die Kontrolle von Zugang zu Raum. Die Akteur:innen sind nicht mehr nur Staaten, sondern auch Unternehmen und Individuen, die in einem Umfeld unklarer Verträge und diffuser Verantwortung agieren.

In der Geopolitik konnte Macht sich verschieben. In der Astropolitik, so die These, könnte der Vorsprung des Ersten permanent sein.

Die Implikation: Imperium oder Kooperation?

Die Denker sind gespalten. Der Realist Dolman sagt: Die USA sollten den Orbit jetzt kontrollieren und als „wohlwollender Hegemon“ agieren, bevor es ein anderer tut. Der Liberale Daniel Deudney warnt, dass das planetare Hegemonie und pures Imperium sei. Seine Lösung ist Kooperation nach dem Vorbild der ISS.

Beide haben valide Punkte. Dolmans „wohlwollende Hegemonie“ ist imperiale Apartheid, während Deudneys Kooperation ignoriert, dass Akteur:innen wie SpaceX keine Staaten sind und Macht nicht teilen wollen.

Kritische Geopolitiker:innen warnen zudem, dass wir die Realität erschaffen, die wir beschreiben. Wenn wir Weltraum als Schlachtfeld sehen, wird er ein Schlachtfeld. Wenn wir ihn als Ressource sehen, die erobert werden muss, wird er erobert.

Wir handeln bereits, als ob es ein Wettrennen wäre.

Die Lesart, nicht das Gesetz

Astropolitik ist keine etablierte Wissenschaft. Sie ist eine Lesart, ein Versuch, Muster zu erkennen. Aber die Korrelationen sind stark. Staaten und Unternehmen verhalten sich, als ob der First Mover Advantage absolut wäre.

Vielleicht ist das eine selbsterfüllende Prophezeiung. Oder vielleicht ist die Logik der Macht, die Mahan für die Meere beschrieb, universell und gilt auch für den Weltraum.

Wir wissen, dass diese Lesart konstruiert ist und dass wir das Problem vielleicht erschaffen, indem wir es beschreiben. Und trotzdem lesen wir die Zeichen. Weil in einer Welt, in der Geopolitik in den Orbit geht, Aufmerksamkeit die Grundlage für Handlungsfähigkeit ist.

Indien zerstörte einen Satelliten, um zu zeigen, dass es kann. Die Trümmer kreisen noch. Jedes Teil ein Zeichen, eine Warnung. Die Frage ist nicht mehr, ob Astropolitik kommt, sondern wie wir uns in ihr bewegen.

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