FN 93-2: Die Anatomie der komplexen Lösung (Teil 2 von 4)
Feldnotiz
Für komplizierte Probleme ist die präzise Kartierung des Kontexts der direkte Pfad zur Lösung. Die meisten strategisch relevanten Probleme sind jedoch komplex. Hier sind Ursache und Wirkung dynamisch verflochten und entziehen sich der Vorab-Analyse.
Das Operieren in der Komplexität erfordert daher den Wechsel zu einer Doktrin der Manöverkriegsführung, angewandt auf organisationale Systeme. Das operative Ziel verschiebt sich von der exakten Exekution eines Plans zur Erringung und permanenten Behauptung der Initiative. An die Stelle von Sense-Analyze-Respond
tritt eine Logik, die dem OODA-Loop von John Boyd folgt: Probe-Sense-Respond
. Ziel ist es, durch schnelle, gezielte Manöver in den Entscheidungszyklus des Systems einzugreifen, dessen Gleichgewicht zu stören und es zur Selbstoffenbarung zu zwingen.
Das ist das Terrain für agile, spezialisierte operative Einheiten – die Crews
. Sie ersetzen starre Abteilungsstrukturen durch zweckgebundene Teams, die diese Manöver im Feld ausführen.
Das Instrument: die Sonde (Probe)
Das zentrale Manöver ist die Sonde (Probe
), ein kalibriertes Experiment, das darauf ausgelegt ist, die Reaktion des Systems zu provozieren. Diese Reaktion ist die Information. Drei archetypische Sonden, ausgeführt von spezialisierten Crews
:
1. Sonde: die paradoxe Intervention
- Lage: Eine klare Strategie versickert in passiver Reibung („verdampfende Absicht“).
- Manöver: Eine Probing Crew – ein Team aus Querdenker:innen und systemischen Analyst:innen – initiiert eine paradoxe Intervention. Sie fordert das Führungsteam auf, drei strategisch relevante Initiativen zu identifizieren, die es aktiv stoppen wird.
- Wirkung: Diese Intervention ehrt die verborgene Logik des Systems. Sie behandelt die „verdampfende Absicht“ nicht als Fehler, sondern als die beste, wenn auch dysfunktionale, Lösung des Systems für einen unsichtbaren Konflikt. Indem die Sonde das Symptom gezielt verschreibt, macht sie die Aufrechterhaltung der alten, ineffektiven Lösung für das System unhaltbar. Es wird gezwungen, entweder den zugrundeliegenden Konflikt offenzulegen oder eine bessere Lösung zu finden.
2. Sonde: der Red-Team-Angriff
- Lage: Eine Organisation hat alle agilen Methoden implementiert, produziert aber nur schnelleren Stillstand („Illusion der Agilität“).
- Manöver: Eine Wrecking Crew wird autorisiert. Diese Einheit, oft aus internen Mavericks zusammengesetzt, hat die Aufgabe, Prozesse gezielt zu testen, indem sie versucht, sie zu brechen. Sie erhält den Auftrag, unter Nutzung der offiziellen Prozesse ein subversives Projekt zur Marktreife zu bringen.
- Wirkung: Das Manöver misst die reale organisationale Porosität. Es macht die Diskrepanz zwischen deklarierter Karte (Prozesshandbuch) und tatsächlichem Terrain (gelebte Machtstrukturen) sichtbar.
3. Sonde: das Human Sensor Network
- Lage: Informationen sind in Silos gefangen, das Lagebild ist durch die Echokammern der Führungsetage verzerrt („gebrochene Wahrnehmung“).
- Manöver: Eine Data Analytics Crew etabliert ein
Human Sensor Network
. Diverse Akteur:innen teilen ihre rohen Beobachtungen, bevor diese interpretiert werden. Parallel dokumentiert eine Journaling Crew die Erfahrungen der Schlüsselpersonen in Echtzeit. - Wirkung: Das Manöver ist ein strukturelles Antidot gegen die kognitiven Verzerrungen, die jede Form der Intelligence-Analyse plagen. Indem es eine Vielzahl unkorrelierter Datenpunkte ohne vorangehende Interpretation sammelt, wirkt es dem Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) aktiv entgegen. Es zwingt die impliziten mentalen Modelle der Entscheider:innen, sich der ungefilterten Realität zu stellen und erzwingt eine Neukalibrierung ihrer Wahrnehmung.
In komplizierten Systemen wird die Lösung gefunden. In komplexen Systemen muss sie emergieren. Die Crews
und ihre Sonden kultivieren die Fähigkeit des Systems, auf die eigene Realität zu reagieren. Die Lösung ist die erhöhte Anpassungsfähigkeit selbst.
Dieser Text ist die zweite von vier Feldnotizen zum Thema Die Domänen der Lösungen.